Das Herz aller Dinge – Eine Mööp Story

(Diese Story wäre in dieser Form nicht entstanden ohne die musische Unterstützung von Eva Hanson und dem Kaffeehaus Schwung & Schwebe in Leipzig Gohlis. Danke!)

Das Mööp ist eine graue Nölmuse, die einst falsch abbog und statt bei Bestsellerautorin Juli Z bei dem Autor landete, der zwar nichts über Biotomatenzucht in Brandenburg weiß, aber Romane über einen russischen Kannibalen verfasst. Während der Corona-Lockdowns erlebten die beiden bereits einige Abenteuer zusammen, die man hier nachlesen kann.

Zeit: 21.08.20203 / 22 Uhr 34/ Ort: Saarbrücken – Nautilus Bar und Motel One

Meiner Geliebten Nora fiel es nie schwer mich zu irgendetwas zu bringen, was ich eigentlich nicht will. Neulich zum Beispiel überzeugte sie mich ein Buch zu lesen, das sich „Tools for Men with feminist Ambitions“ nennt.

Vorgestern überredete sie mich dazu, sie hierher nach Saarbrücken zu begleiten. Wo sie einen ihrer Vorträge über Tantra-Sex hielt und sich danach mit ein paar Freunden in einer Bar voller Zahnräder und Dampfschiffmodelle traf.

Die Cocktailpreise in dem Laden lagen jenseits meiner Brieftaschenkomfortzone. Weswegen ich auch Bier trank. Als einziger am Tisch.

Noras Freunde waren LARPer. Ich hätte lieber mit jedem taubstummen Sattelpolierer mein Bier getrunken, aber man hatte eben nicht immer eine Wahl.

Konversationsthemen am Tisch waren Drachenbabys und Affensex. Von beidem hatte ich nur begrenzte Ahnung, weswegen ich mich auch nur sporadisch an der Unterhaltung beteiligte. Einer der LARPer erwähnte vorhin auch mal Musen. Aber die hielten sich nicht lange als Gesprächsthema.

Was Musen betraf, hätte ich durchaus einiges beizutragen gehabt. Nur fürchtete ich, dass der reale Nervgrad des Alltagslebens mit einer Nölmuse die LARPer überfordert hätte und hielt deswegen meinen Mund.

Nora verkaufte bei ihren Vorträgen T-Shirts mit dem Spruch „Monogamie – die Wurzel allen Übels“, und das meinte sie auch so. Bestimmt hatte sie schon mit mindestens acht der zehn Menschen am Tisch Sex gehabt.

Eben legte sie ihren Arm um die Rothaarige Alice-Mit-C. Die war hübsch und trug ein Korsett zu einem langen Samtrock.

Nora küsste sie.

Ich würde Alice-Mit-C ebenfalls küssen und wie man Korsetts auspackte wusste ich auch. Aber die beiden hatten nur Augen füreinander.

Früher war Monogamie die Regel. Früher durften Frauen nicht mal lesen und schreiben lernen und blieben den ganzen Tag zu Hause. Wo war die Macht des Patriachats, wenn du sie mal wirklich nötig hast?

Alle in der Bar schauten jetzt zu, wie Nora zungenküsst.

Ich fragte mich, was ich hier sollte.

Die Barkeeperin, der Nora mich vorhin als „ihren Partner“ vorgestellt hatte, schaute mich mitfühlend an.

Ich trank mein Bier aus und fuhr ins Hotel zurück.

2. Dort fiel mein Porno-Kopfkino aber nur noch hartnäckiger aus und hinderte mich am Einschlafen. Die Minibar hatte ich bereits leer getrunken. Außer zwei Winzflaschen Gin und einem unter-prächtigem Bourbonverschnitt war sowieso nichts Alkoholisches drin gewesen.

Nora hatte in einer Pillendose immer ein paar Schlaftabletten dabei. Ich suchte nach ihr. Aber die blöde Dose war leer.

Doch in dem Täschchen, in dem sie gelegen hatte, sah ich etwas Weißes und griff danach. Eine Tablette. Das Döschen schloss schlecht. Die Pille war offenbar rausgefallen.

Mein Kopfkino baute weiter an einem Porno, den ich nicht sehen wollte. Also warf ich die Pille ein, kippte einen Schluck Wasser hinterher und legte mich aufs Bett.

Geht doch, dachte ich und schlief ein.

Meine Träume sind in der Regel so harmlos, dass mich Hippies blind dafür adoptieren würden. Aber in dieser Nacht hatte ich einen Traum, für den mich schlechte Horrorschriftsteller aus purem Neid lebendig zerhackt hätten…

3. Ich befand mich in einem großen, nach außen gewölbten Raum aus Kupferblech, an dessen Wänden jede Menge Leitungen entlangliefen. Schlichtere Gemüter hätten den ja mit einem Maschinendeck auf einem Death-Star verbunden. Aber die Vorteile einer ausgewogenen literarischen Bildung bestehen darin, dass man sich für Superhelden oder Star-Wars nicht interessiert. Deswegen galt mein erster Gedanke auch keinem Todesstern, sondern Jules Vernes Nautilus-U-Boot.

Das, was ich draußen hinter dem Bullauge sah, waren aber keine Wellen, sondern Wolken.

Hm, ein Luftschiff hatte Jules Verne auch zu bieten gehabt.

Aber ich hatte Flugangst. Das hier war also so gar kein beschwingtes Traumsetting für einen Mann wie mich.

Weil man sich seinen Ängsten ja stellen sollte, wagte ich einen Blick aus dem Bullauge. Die Wolken blieben weiter Wolken.

Das Schiff vibrierte.

Vielleicht hatte es das die ganze Zeit schon getan, aber ich bemerkte es erst jetzt. Vibrationen könnten auf technische Probleme hindeuten, flüsterte mir der pessimistische Teil meines Unterbewusstseins zu.

Während ich fürchtete, dass das Luftschiff jeden Moment bruchlanden könnte tastete sich meine Flugangst allmählich zum Brechreiz vor.

Ich dachte über meine Lage nach. Wenn ich herausfinden wollte, wo ich war und ob ich Gefahr lief abzustürzen, sollte ich mich zum Steuerdeck durchschlagen.

Etwa vier Meter neben mir öffnete sich eine runde Bullaugentür.

Im Türrahmen stand Mööp. Er trug eine kleine runde Sonnenbrille und schaute mich an. Es gab Tage, die waren und blieben einfach scheiße. Und dann gab es offenbar noch Tage wie diesen.

„In achtundvierzig Stunden wird der russische Söldnerchef J. W. Prigoschin in der Nähe von Moskau mit einem Privatjet abstürzen!“, sagte Mööp.

„Ich bin in einem Luftschiff eingesperrt, das eben zu vibrieren begonnen hat und das erste, was Sie meiner FLUGANGST entgegensetzen ist der HINWEIS auf einen FLUGZEUGABSTURZ?“, brüllte ich ihn an.

Die Vibrationen hatten sich verstärkt und das Schiff neigte sich spürbar nach vorn.

„Falls Sie sich übergeben müssen, rate ich dazu, es entsprechend der Senkrichtung unseres Gefährtes zu tun!“, antwortete Mööp.

Seltsamerweise wunderte es mich nicht ihn hier getroffen zu haben. Es wunderte mich allerdings auch nicht sehr, mich plötzlich in einem Luftschiff mit vibrierender Schieflage wieder gefunden zu haben.

Der Schiffsbug senkte sich weiter. Inzwischen musste ich mich an einer der vielen Leitungen, die an den Wänden entlangliefen, festhalten um mich weiter aufrechthalten zu können. Von irgendwoher erklangen gleichmäßig klirrende Maschinengeräusche. Waren die neu? Oder hatte ich sie bisher nur überhört?

„Mööp?! Was ist das hier?“

Er verkrallte beide seine überlangen großen Zehen um die niedrige Schwelle der Bullaugentür und hob den Rüssel. „J. W. Prigoschin begann seine Karriere als Caterer und Restaurantbesitzer. In dieser Eigenschaft hat er einst Prinz Charles und mehrere US-Präsidenten bedient. Besonders berühmt ist die Quallen-Algen-Soße, die sein britischer Chefkoch entwickelt hat!“

Quallen-Algen-Soße?! Meine Phantasie gaukelte mir eine Duftmischung aus vergorenem Seegras und vergammeltem Sushi vor.

Ich reiherte die Wand unterm Bullauge an.

Mein Erbrochenes floss in Senkrichtung des Schiffes am Boden entlang und sammelte sich an der Stirnwand des Raums.

Mööp wackelte angeekelt mit dem Rüssel, wobei seine Sonnenbrille verrutschte.

Die Vibrationen stoppten.

Das Schiff senkte sich stärker vornüber.

Das Rohr, an das ich mich klammerte zerbrach.

Ich rutschte auf meine Reihersuppe zu, die unter der Raumstirnwand entlangschwappte.

Im letzten Moment bekam ich ein neues Rohr zu fassen und hing jetzt beinah horizontal ein paar Meter hinter dem Bullauge.

Die Vibrationen begannen erneut.

Das Schiff brachte sich wieder in Normallage.

Auch das zweite Rohr zerbrach.

Ich knallte zu Boden.

Während ich mich zu orientieren versuchte, krängte das Schiff heftig nach links.

Halb rollte, halb flog ich auf Mööp und die Bullaugentür zu.

Einschlag in Mööp.

Den Gesetzen der Physik folgend kompensierte er meine Auftreffenergie derart, dass er aus der Tür in den dahinterliegenden Raum geschleudert wurde.

Begleitet von einem Schlag gegen meinen Hinterkopf und je einem weiteren gegen meine Füße und meinen Hintern folgte mein Körper Mööps Flugbahn.

Ich schlug zuerst auf Mööp und dann – von Mööps Körper etwas abgedämpft – gegen eine neue Wand.

Es dauerte einen Moment, bis Mööp sich unter mir heraus sortiert hatte. Ich stellte fest, dass ich mir nichts gebrochen hatte.

Vor mir lag Mööps Sonnenbrille, die ich ihm zuvorkommend heraufreichte.

„Danke!“, sagte Mööp.

Die Vibrationen verringerten sich.

Das Schiff balancierte sich wieder aus.

Mööp richtete sein geknicktes Kopfhaarbüschel neu und blickte dabei an mir vorbei.

„Ist ja nicht so, dass ich Sie vermisst hätte, Mööp. Aber wenn Sie schon mal hier sind, wäre es nur fair mir mitzuteilen, was das hier soll?“

Mööp wackelte neben mir mit seinen langen Zehen. „Sie als schlichter Trivialromantiker wären absolut unfähig das Konstrukt, in dem wir uns befinden, in all seiner Komplexität erfassen zu können. Also gehen Sie einfach davon aus, dass Sie sich im Herzen aller Dinge befinden.“

Dass das Herz aller Dinge in einem Luftfahrzeug mit unzureichender Steuertechnik schlug, erschien mir seltsamerweise nachvollziehbar. Noras LARPer-Freunde hätten es wahrscheinlich in Mordor oder auf einem scheiß Death-Star vermutet. Weshalb sollte es sich da nicht auch in einem Luftschiff befinden?

Aber selbst das Herz aller Dinge brauchte einen Kapitän und einen Ort, von dem aus es gesteuert wurde. Wer immer dieser Kapitän war, er hatte seinen Luftkahn offenbar nicht im Griff. Ich war hier Passagier. Ich hatte schließlich Rechte.

Ich blickte mich um. Wir befanden uns in einem riesigen Raum mit gewölbter Decke. Auf beiden Seitenwänden des Raums befanden sich vergitterte Nischen, aus denen diese klirrenden Maschinengeräusche heraus drangen.

Entschlossen den Kapitän zu finden und ein paar Takte mit ihm zu reden, stand ich auf und ging auf das in der Ferne liegende Schott zu.

4. Ich habe meine überdurchschnittlich entwickelte Phantasie zum Beruf gemacht und mich umgesehen in der Welt. Abgebrühte Verleger warnen ihre Frauen, Kinder und bestsellernden Schnulzenautor*innen vor meinen Romanen. In manchen Buchhandlungen wurde mein Erstlingswerk nur nach vorheriger Altersprüfung an Kund*innen ausgehändigt.

Was ich hinter den Gittern erblickte, ließ mir die Nackenhärchen aufstehen und pflanzte mir Angst in die Seele.

Darin befanden sich Wesen, die zwar einst Menschen gewesen sein mochten. Aber nun glichen sie etwas, das nur Ergebnis eines Projektinzestes zwischen Dr. Frankenstein und einem soziopathischen Uhrmacher sein konnte. Wobei einer der beiden zusätzlich eine Prise schwarzer Zombiemagie in die Mischung geworfen haben musste, so leer, kalt und tot mir die Augen der Wesen aus den Nischen entgegenblickten…

Ich sah Dutzende von ihnen und die einzige Eigenschaft, die sie alle gemeinsam hatten, war, dass mindestens einer ihrer Arme künstlich war und sie mit diesem Arm alle mit immer denselben Bewegungen einen Hebel bedienten.

Wuusch! – Hebel rauf

Wuusch!- Hebel runter

Einige trugen Pestmasken über den Gesichtern und bestanden aus mehr Metall als Fleisch und Blut. Andere waren zwar totenbleich, aber erschienen mir sonst nahezu vollständig menschlich geblieben zu sein und wiesen nur jenen einen künstlichen Arm auf. Wobei diese Wesen für mich den furchtbareren Anblick boten, weil sie bei aller gespenstischen Maschinenhaftigkeit so verletzlich und verloren erschienen wie Kinder, die man ohne Mäntel und Schuhe in einem Winterwald ausgesetzt hatte.

Eine weitere Eigenheit teilten alle, die ich sah: Ihre Herzen waren durch ein rötlich schimmerndes Uhrwerk ersetzt worden, über das man einer polierte Glasplatte angebracht hatte. So dass jedes Zahnrad und jegliche rötlich silbern schimmernde Schraube darin erkennbar war.

Schweigend und schwankend machte ich meinen Weg durch diesen Maschinenraum der Monstrositäten. Abgeschlagen folgte mir das Mööp, das ständig damit beschäftigt war seine Sonnenbrille zurechtzurücken.

Bis ins Mark getroffen fuhr ich von einer der Nischen zurück, weil ich an dem Wesen darin ein bekanntes Gesicht zu erkennen glaubte.

Schockiert lief ich einige Meter zu zwei weiteren Nischen zurück. Wo mich zuvor bereits beim Anblick der dort gefangenen Wesen eine Ahnung von Wiedererkennen überkommen hatte.

Danach gab es keine Zweifel mehr. Was dort im Herzen aller Dinge die Hebel bediente, waren die zu Maschinenzombies reduzierten Doppelgänger von Kultur-Arbeitern aller möglichen Kreativhaupt, neben und -Unterbranchen.

Mööp stand plötzlich neben mir. Er schob seine Sonnenbrille auf die Stirn.

„Jetzt wissen Sie, was das Herz aller Dinge antreibt“, flüsterte er fast zutraulich.

Ich antwortete nicht darauf.

Jedes der Wesen, das ich wiedererkannt hatte, teilte mindestens eine weitere Eigenschaft mit den übrigen Maschinenzombies. Ihre Doppelgänger in der realen Welt zählten zu den guten und halbguten Kreativarbeitern, die die riesige Maschine der Unterhaltungs- und Informationsgesellschaft mit dem geistigen Fastfood versorgten, das uns alle in unseren kleinen Alltagsgefängnissen aus Pflichten und miesen Kompromissen so fett, träge und gefügig hielt.

Wuusch, Wuusch, Wuusch, Wuusch – hoben und senkten die Zombies ihre Hebel.

Ich nahm sehr bedacht Mööps Sonnenbrille zwischen zwei Finger, hob sie ab und blickte ihm dann zorn-entschlossen in die kleinen Augen.

„Mööp, falls Sie etwas damit zu schaffen hatten, dass ich diese Gräuel sehen musste, werde ich Ihr Kopfhaarbüschel rasieren, Sie töten, ausweiden und Ihre Reste anschließend an die Katze des Else-Kling-Klons aus dem Nachbargrundstück verfüttern!“

„Nölmusen sind für Katzen absolut unverdaulich!“, antwortete er und vollführte anschließend einen Augenaufschlag, der sich an falscher Treuherzigkeit mit jeder Femme Fatale messen konnte. „Aber dass Sie so erschrocken sind, kann ich nachvollziehen!“

„Die Katze, von der ich rede, hat an Schweinestallratten und pestizidgeschädigten Hamstern geübt. Für deren Magen ist eine Nölmuse geradezu ein Festmahl, Mööp!“

„Pah!“, sagte Mööp und rückte die Sonnenbrille wieder über die Augen.

So leicht kam er mir nicht davon. „Sie und ich sind doch nicht zufällig hier.“

Mööp schüttelte den Kopf und trommelte mit den Zehen auf den Schiffsboden.

Aha, dachte ich und streckte bereits meine Hand aus um nach ihm zu greifen. Wobei mir deutlich schrecklichere Pläne durchs Hirn schwappten als ein Nölmusen-Festmahl für die pestizidhamster-gestählte Nachbarskatze.

In dem Moment senkte sich der Schiffsbug.

Mööp rutschte an mir vorbei.

Ich versuchte mich verzweifelt irgendwo festzuklammern.

Das letzte, was ich sah, bevor auch ich durch den Maschinenraum flog, waren zwei breite Risse, die sich in der Außenhaut des Herzens aller Dinge auftaten.

Ich krachte neben Mööp gegen ein Schott. Das unter unserem Aufprall knarzend aufschwang.

Der Raum dahinter glich dem, den wir beide eben fliegend verlassen hatten. Nur, dass hier die Risse in der Außenhaut zahlreicher waren und länger…

„Ätsch!“, flüsterte meine zeitweise vergessene Flugangst meinem Unterbewusstsein zu.

Mööp und ich durchstürzten unzählige weitere Maschinenräume voller vergitterter Nischen und Uhrwerkzombies, dann hob sich der Bug des Schiffes plötzlich wieder.

Wir fielen auf unsere Hintern. Ich übrigens härter als Mööp. Was daran lag, dass er relativ weich auf meiner Brust landete.

Mööp setze seine Sonnenbrille wieder auf und wackelte dabei mit seinem Hintern unter meinem Kinn. Das kitzelte.

„Hören Sie auf damit, Mööp!“

„Der CDU Vorsitzende Friedrich Merz bügelt seine Hosen selbst. Das hat er am 30. 9. 2020 der Bunten verraten!“ antwortete Mööp und sprang von mir herunter.

Mit einem Geräusch, das sich anhörte, wie eine Kreuzung aus zerhacktem Klavier und Zugbremse krängte das Herz aller Dinge hart nach links.

Nachdem wir auf unsere Hintern gefallen waren, knallten wir jetzt hart gegen die Außenhaut des Schiffes.

Nicht alle Maschinenzombies waren hinter Gitter gesperrt. Denn durch ein Schott einige Meter vor uns stürmten mindestens zehn von ihnen auf uns zu. Sie schwangen Vorschlaghämmer, angespitzte Pinselstile, Packpapierrollen oder Stahllineale. Einer hatte sich sogar mit zwei Bürostuhlbeinen bewaffnet. Keiner von denen wirkte als sei er gekommen, um Kumbaya mit uns zu üben.

„Vorschläge?“, rief ich Mööp zu, während die Gusseisenzombies sich um uns versammelten.

Mööp sprang von mir herunter und brachte sich – Hintern erhoben und Rüssel geradeaus vorgestreckt – in Kampfposition.

Dann – drehte er eine Pirouette.

Unsere Gegner wirkten hochgradig verwirrt.

Aus Mööps Rüssel und Hintern schossen Schleimbatzen hervor. Die in Gesichtern und Gelenken der Zombies einschlugen, dort zerplatzen und ihnen die Mechanik verklebten.

Mir kam eine Idee. Ich packte Mööp an seinem dünnen Ärmchen, riss ihn vom Boden herauf und schwang ihn anschließend wie eine Keule über meinen Kopf. Das verringerte zwar seine Schleimbatzen-Trefferquote, aber es versetzte die Gusseisenzombieschläger in blanke Panik.

Ich warf Mööp durch das Schott, sprang dann über dessen Schwelle, schloss es hinter mir und verriegelte es.

Ich fragte mich ob wir es vielleicht endlich zum Steuerdeck geschafft hätten und legte mir bereits einige sehr unhöfliche, aber dafür extrem ehrliche Sätze für den Kapitän dieser fliegenden Ungeheuerlichkeit zurecht.

Dann wandte ich mich um.

5. Wir befanden uns tatsächlich auf dem Steuerdeck. Es war mit allerlei Art Déco- Mustern verziert. Seine großen Fenster bestanden aus hunderten kleinen gewölbten Glasscheiben und glichen gewaltigen Insektenaugen.

Auf einer Empore hinter einem prächtig verzierten Pult voller fein ziselierter Silberknöpfe und Mahagonihebel, saß ein riesiger Karpfen mit trüben Augen und blausilbern schimmernden Flossen, mit denen er regelmäßig auf Knöpfe schlug oder Hebel bewegte.

Ähm ja, dachte ich und fragte mich, weshalb ausgerechnet ein blinder Fisch am Steuer des Herzens aller Dinge saß. Andererseits erklärte das auch, weshalb das Schiff so oft krängte, zum Absturz ansetzte oder fast auseinanderbrach.

Die trüben Augen des Karpfens richteten sich auf mich.

„Hast du etwas zu sagen?“, fragte er mit einer hohen operettenhaften Stimme.

„Eure Schiffshaut hat Risse!“, antwortete ich. Zugegeben nicht besonders kreativ. Aber dafür wahr.

„Das kommt davon, wenn man FAZ-Redakteure im Instandhaltungsteam hat!“, antwortete der Fisch.

In Asien waren Karpfen Glückssymbole. Im Westen spekulierte man darüber ob die beiden Fische, die Jesus bei der Speisung der Fünftausend verwandelte, Karpfen gewesen sein könnten. Vor ungefähr sechzig Jahren hatte ein christlicher Studentenclub in Sidney Fische als sein Wahrzeichen gewählt und eine Fischzeichnung auf ihre Autoscheiben geklebt. Seither fahren jede Menge sendungsbewusste Christen mit Fischstickern an ihren Autos oder Fahrrädern herum. Auf meinem Briefkasten klebten ein Pentagramm und ein kotzender Fisch, was meine fundi-christliche Postfrau zuverlässig davon abhielt mir ihre evangelikalen Flyer in den Kasten zu werfen (Und nebenei gesagt, sogar die Sprayerkids verschreckte, die mich wegen des Pentagramms für einen Satanisten hielten und deswegen meine Mauern von ihren Tags verschonten.)

Dass am Steuerpult des Herzens aller Dinge ein blinder Karpfen hockte machte metaphorisch ungefähr so viel Sinn wie Geburtstagskarten auf einer Beerdigung.

Über dem Kopf des Karpfens glitt ein Teil des Schiffsdaches zurück. Darunter drehte sich ein Karussell aus tausenden winzigen Fächern, in denen blutige Herzen einen gelblichen Saft in durchsichtige Leitungen pumpten. Zweifellos versorgten sie jede der vergitterten Nischen im Schiff mit der schimmernden Flüssigkeit.

Ich war absolut fasziniert davon.

Mööp kniff mir ins Bein.

Ich schaute weiter auf das Herzkarussell.

Und entdeckte ein freies Fach darin.

Der blinde Karpfen lächelte mich siegesssicher an.

Mir wurde endgültig klar, dass jenes freie Fach für mein Herz bestimmt war und irgendwo in einem der Maschinenräume eine vergitterte Nische auf mich wartete.

Die Blicke des blinden Karpfens gaben mir das Gefühl mit guten Drogen vollgepumpt zu werden. Glückselig legte ich den Kopf zurück und breitete meine Arme aus. Etwas zog und zerrte an meiner Brust.

Mööp stieß ein wimmerndes Geräusch aus.

Über dem Karpfen drehte sich fordernd das Herzkarussell.

Die Aussicht auf eine der Nischen erschien mir plötzlich verlockend. Nie wieder Rechnungen stellen, nie wieder Miete zahlen, keine Diskussionen mit Lektoren oder Agenten mehr und keiner stellte dir bei Lesungen, die immer gleichen bekloppten Fragen! Herrlich!

Aber, schoss mir durch den Sinn, auch keine Nora mehr, keine Bierchen, keine Kippen am frühen Morgen oder Konzerte und Partys in der Nacht. Außerdem nie wieder die stille Hoffnung eines Tages doch noch einen Literaturpreis zu gewinnen. Und schließlich war da die Aussicht meine Restlebenszeit vielleicht in einer Brigade von FAZ-Redakteuren damit verbringen zu müssen, Schiffslecks zu stopfen.

Ja, ich war eine Entertainmenthure und würde in dieses Schiff passen wie eine Stoppuhr zu einem Sportfest. Aber auch Huren hatten ihren Stolz. Sie bestanden darauf gefragt und bezahlt zu werden, bevor man sie küsste – oder fickte.

„Mein Talent ist zu groß für diese Scheiße!“, rief ich dem blinden Karpfen zu.

Sein Bann über mich brach.

Die Insektenaugen des Herzens aller Dinge zersplitterten. Ein frostiger Luftzug schoss ins Steuerdeck. Meine Flugangst rief lauter als je zuvor „Ätsch!“

Ein gewaltiges Knarren, Ächzen und Klirren fuhr durch das Schiff. Risse liefen wie Spinnennetze über den Boden.

Das Karussell zerbarst.

In Erwartung eines Hagels blutiger Herzen zog ich den Kopf ein. Trotzdem sah ich, wie sich der blinde Karpfen in Millionen von Tropfen auflöste. Über seinem Thron drehten all die blutigen Herzen noch zwei Runden, bevor sie alle zu Buchstaben, Notenschlüsseln, Ziffern und hunderten weiteren winzigen Symbolen aus Fleisch und Blut wurden, und schließlich – zerplatzten.

Es war das schönste Wunder, das ich je gesehen hatte.

6. Ich schlug die Augen auf und schaute mich um.

Erleichtert stellte ich fest, dass ich mich in dem Motel One Zimmer befand. Was ich jetzt brauchte waren eine Kippe, ein Bier und Nora. Und zwar exakt in dieser Reihenfolge. Was ich gerade nicht brauchte waren neue Albträume.

Trotzdem – oder eher gerade deswegen – sprang Mööp plötzlich neben mir aufs Bett. Er trug seine Sonnenbrille und hielt dabei eine gelbe Bade-Ente zwischen den Fingern.

„Ich brauche Ihre Hilfe!“, sagte er. Dann setzte er die Sonnenbrille ab. Seine Augen waren so trüb wie die des blinden Karpfens am Steuerpult im Herzen aller Dinge. What the fucking fuck?

7. Ich erwachte.

Dieses Mal wirklich.

Ich hatte Kopfschmerzen, einen steifen Hals und eingeschlafene Füße.

Nora strich mir übers Gesicht.

„Und, wie war Alice?“

„Lässt dich grüßen!“

„Ach?“

„Ja!“

„Und?“

„Was- und?“

„Na, hast du mir ihr…?“

„Sex gehabt? Sei nicht kindisch.“

Aha, dachte ich. Nora küsste mich auf die Nasenspitze. Es kitzelte. Ich hasste es, wenn sie das tat.

Ich versuche mit meinen eingeschlafenen Zehen zu wackeln.

„Du hast im Schlaf geredet, Liebster. Irgendwas von einem Mööp und dem Herzen aller Dinge. Geht’s dir gut?“

„Albtraum“, antwortete ich.

„Oh, worüber?“, fragte Nora.

„Ein Luftschiff voller Kultur-Zombies. Das von einem blinden Karpfen gesteuert wurde.“

Nora antwortete eine Weile nicht. Dann sagte sie sehr nachdrücklich „Scheiße!“

„Genau!“

„Was ist ein Mööp?“, fragte Nora, während sie ihr Pillendöschen öffnete und mit gerunzelter Stirn hineinsah.

Unangenehm kribbelnd erwachte mein rechter Fuß.

Wie sollte ich ihr erklären, was eine Nölmuse war?

„Irgendein Zombie aus meinem Traum!“

„Hm“, erwiderte Nora und zeigte mir ihre leere Pillendose. „Sag mal, hast du meine Anti-Baby-Pille gesehen? Eigentlich hätte die hier drin sein müssen.“

Ich setzte mich im Bett auf.

„Wie Antibaby-Pille? Ich dachte da drin bewahrst du deine Schlaftabletten auf?“

Nora schaute mich erstaunt an. „Die sind doch in der roten Dose in meiner Handtasche.“

Ich fiel aufs Kissen zurück.

Ich hatte also den schlimmst-geilsten Albtraum meiner Horrorautorkarriere einer Superdosis weiblicher Hormone zu verdanken? Das glaubte mir doch keiner. Aber vielleicht erklärte das all die Herzsymbolik in meinem Traum. Oder war das etwa sexistisch?