I. Seinerzeit war ich wie geblendet vom Versprechen auf einfache Gewissheiten. Ich saß in Seminaren und zitierte Carl Schmitt, pogte im Zorro und soff auf dem Dach eines besetzten Hauses mit einem Kiffer, der behauptete ein Nachfahr Katherinas der Großen zu sein. Er schlug seine Geliebte und verdiente sich als Portier etwas hinzu. Zwei Huren schoben ihm regelmäßig Scheine zu, weil er sie Hotelgästen empfahl.
Im Fernsehen tilgte der fette Kanzler jegliche Distanz zwischen Sektvertretern und Staatsdoktrin, beschwor den Beweis für die Existenz Gottes im Segen der späten Geburt und behauptete, dass das dicke Ende jeglicher tragfähigen Zukunftsangst in blühenden Landschaften läge.
Als sich ein paar Popliteraten die Stoppelkinne rieben und erstaunt fragten, wie hoch die Schnittmenge zwischen den Blüten jener Landschaften und dem gebräuchlichen bundesdeutschen Grabschmuck sei, erhoben die süddeutschen Meister der Unkenrufe warnend die sklerotischen Zeigefinger. Sie flüsterten etwas vom Verrat an einer mit schwarzen S-Klassen gesättigten Zukunft.
Nur hatte da im Kino längst Harvey Keitel aus einer Pumpgun und einer Basekeule ein Kreuz geformt um damit die Blutbäder kommender Generationen vorauszusagen.
Momos graue Anzugherren verschwendeten ihre Kulturpfennige an die FAZ. Nie für Kinokarten. Nehme ich an.
II. Während der Punk im Zorro qualvoll an Grungegeschrammel starb, hörte ich meinen Professor von den Vorzügen der Religion als geistige Tauchtiefenmarke labern: Der moralische Grundwasserspiegel, behauptete er, dürfe nicht zu hoch schwappen, ansonsten drohe die Ungewissheit eines neu zu verhandelnden Status Quo.
Wir rätselten seinerzeit in einem Hinterzimmer über die symbolische Tiefe eines rebellischen Aktes, der darin bestand, das Klopapier im Reichstag mit einem poetischen Bastard zweier Nationalhymnen zu bedrucken – die Volksvertreter als Endverwerter unserer lyrischen Kompromisse. Wenigstens die Brachialsymbolik wäre Blödzeitungsreif gewesen.
Doch für Spaßguerilla fehlte uns letztlich der Mut. Deshalb tranken wir uns unsere Feigheit mit Cuba Libres rosablau. Venceremos und die Faust geballt im Himmel vor Pinochets verwesender Mördervisage!
Während wir stürzen, fallen wir nicht auf. Unsere drei Ks hießen wieder: Kiffe, Koks und Kohle.
Irgendwer hätte damals die Kellerbars und Discotheken mit Warnhinweisen versehen müssen: “Die Abtreibung Eurer Selbstgerechtigkeit zeitigt Nebenwirkungen, die sich eher langfristig manifestieren”
Die blonde Anwältin in meinem Bett trug graue Etuikleider zu Highheels. Ihre Idee von Zukunft wurde bei Spieleabenden in Vorstädten rund geleckt.
Immer standen dort – damals schon – Omas Sideboards und Küchenschränke in den WGs.
Damals, so rede ich mir ein, noch aus Mangel an bezahlbaren Alternativen.
III. Aber der Mann, der meinen ersten Roman lektorierte, war ein Prophet und verfügte über einen Nietzsche-Schrein im Biedermeierwohnzimmer. Überm Küchentisch hing, fein gestickt auf Leinen, das Popmantra der anspruchsvolleren Schlagerträllerfraktion vom Ballermann: “Man muss noch Chaos in sich haben um einen tanzenden Stern gebären zu können”.
Ich fühlte mich unwohl dort. In meinem Roman stand nicht “Meine Reime sind Keime einer besseren Welt“. Darin wurde höchstens die aggressive Heimeligkeit von Hotelsuiten mit der zielgerichteten Zärtlichkeit von Zuhälterohrfeigen verglichen.
Aus der Traum von der FAZ-Romankritik.
Jahre später hörte ich, dass der Mann in einer Gameshow ein paar zehntausend Euro gewann.
IV. Jetzt lese ich, der fette Kanzler liege tot im Blechsarg in Oggersheim. Die Witwe hat Kühltechnik bestellt, die die Verwesung bis zum Staatstrauerakt aufhalten wird. Da, denke ich, wurde doch Zuversicht ins bundesdeutsche Ingenieurswirtschaftsmodell bewiesen: “Vorsprung durch Technik”.
Verwaist dennoch nun, all jene faltig alten Männer mit den Seitenscheiteln und deren junge Speichelleckergarde. Sie hatten seinerzeit schon bereitwillig in der schwarzen Milch der Stagnation gebadet, die der fette alte Kanzler so reichlich aus seinen Anzugzitzen verströmte. Sein Milchschoss war lange fruchtbar geblieben.
Während der teure Tote leblos grünrote Tränen weint, sammeln sich Nattern. Sie streichen – leise Formeln zischelnd – mit alten süddeutschen Unken um frisch virile Lanzenottern, herbei gekrochen aus den neuen Provinzen im Osten und jenen uralten im Süden.
Seit in Oggersheim die Kühlungen rattern, stelle ich mir das Treiben an jenen geheimen Orten gern getragener vor – gehemmt von Trauer und dem Gefühl letztlich doch verwaist zu sein.
Manchmal, dann wenn der Tau niederfällt, ertönen die Unkenrufe lauter durch die klaren Sommernächte, zeigen in der tragfähigen Stille versprengten Rattenrotten, die sich aus Nord und Süd längst auf den Weg zum Tanz gemacht haben, Marschrichtungen an. Gemeinsam werden sie – nach dem großen Fressen – das Land neu vermessen. Ein Sommerstalingrad des Bodendeckergezüchts. Die Sieger, frisch gelabt an ihresgleichen, reichen sich über die Karkassen ihrer kannibalisierten Kameraden Federn, Tinte und Töne.
Ich ahne eine Flut von schlechten Gedichten.
Ragnarök – ausgerufen von geübten Sonntagsanzugsträgern.*
* Der Text entstand anlässlich des Todes von Helmut Kohl am 16. Juni 2017