Es gibt Sterni oder Industriebier. Das Industriebier kenne ich nicht. Aber es kommt nur in kleinen Flaschen und hat ein Label, das mich an DaDaEr-Propagandakunst erinnert und deswegen instinktiv abstößt.
Daher halte ich jetzt das zweite Sterni in der Hand und drehe mir die dritte Kippe dazu. Das Sterni hier kostet 3 Euro. Das kann jetzt nicht für jeden erschwinglich sein. Ob Sterni je 3 Euro wert sein dürfte – darüber jetzt keine Diskussion.
Ich bin hier übrig. Das ist gut so. Keiner stößt sich an mir. Keiner nimmt mich wahr. Das Gefühl ein Geist zu sein ist erfrischend. Aber es ist das einzige, was mich hier erfrischt. Ich sehe zum Himmel, sommernächtlich heiter dunkel. (Ich weiß, dass das ein Widerspruch ist aber: Scheißt der Hund drauf!).
Aus einem leeren Saal hinter den Fenstern neben mir tönt glatt geschnörkelte E-Mucke. Irgendetwas, das schneller als Ambient ist, aber so gefällig gebürstet, dass es auch in Hotelfahrstühlen laufen könnte ohne irgendwem weh zu tun. Das musikalische Äquivalent zu Chinos mit Bügelfalte.
Jeder hier ist so furchtbar höflich. Das fällt wirklich auf. Man ist höflich zueinander. Ich überhöre Männer, die Floskeln wie “Oh mein Gott, wirklich?” in ihre Handys raunen. Und sowieso hab ich das Gefühl eines Deja vu. Die Geräuschkulisse hier, wenn ich die Augen schließe, wirkt so unbestimmt plätschernd. Nichts sticht da heraus. Die Stimmen und die Tonalitäten ergänzen die Bügelfalten. E-Mucke.
Ich frage mich: Üben die hier alle schon für die Smalltalk Stehpartys, die sie später in ihren Verlags- und Werbeagentur, Politikredenschreiber- und Redaktionsjobs durchzustehen haben?
Die Mucke wird jetzt lauter, beweglicher, stampfiger. Und ich glaube ich habe eine Frau über das Gartensmalltalkpartygeräuschlevel hinaus lachen hören. Die Mucke, so wie sie jetzt klingt, könnte immerhin in einer sommerlich frischen Shampoowerbung laufen.
Jemand streckt den Kopf zu einem Fenster hinaus und spricht mit einem anderen Jemand: Wer hat wen gesehen und sind heut mehr hier als letztes Jahr…?
Diese Sorte von Wortwechsel.
Wenn ich jetzt hier hinter einen der Büsche trete um zu pinkeln, könnte ich bestimmt Rucksack, Bier und Tabak einfach auf diesem Stück Treppe liegen lassen, ohne fürchten zu müssen, dass eines der Teile geklaut wird. Das hat etwas sympathisch intim festliches. Dennoch geht mir dabei durch den Kopf: Was wird man wohl sagen, falls man den Fremden beim pissen hinterm Busch ertappt? “Oh mein Gott, das ist nicht erlaubt?!” Weshalb hab ich nur das Gefühl jeder hier strahlt eine Sicherheit in der Kategorieabteilung: “Angekommen” aus?
Mein vom Bier abgeregtes Gewissen flüstert mir zu: “Du bist zu harsch, zu arrogant. Du bist auf dem Weg alt zu werden. Aber die alle hier sind jung. Und was sie ausstrahlen ist die Unbesiegbarkeit und Überheblichkeit der Jugend. Du warst selbst so. Du hast Leute in die Fresse gehauen, weil du glaubtest sie dürsteten insgeheim danach. Und wusstest damals – das kannst du, weil du zwar der Vergeblichkeit, aber noch nie wirklich der Tristesse des Sterbens ins Auge gesehen hast.”
Ich – ein Teil des Konstrukts ICH – ist sich gerade nicht sicher, ob es sich selbst und der Erinnerung trauen sollte. Und das inmitten all dieser Sommerbanalität hier. Wer sagt denn, dass die gute unter der erträglichen Sorte von Literatur tatsächlich nur auf Scheißhaufen wirklich über sich hinauswachsen könnte?
“Die schönen Verlierer, sie tanzen noch, an den Rändern der Strassen, die schon immer ohne Bürgersteige auskamen“….
Nur hier tun sie es offensichtlich nicht mehr. Hier herrscht eine Sattheit, die mich nicht abstößt oder verwundert, aber überheblich macht. Und das zweifellos und um fair zu sein – zu unrecht.
Wer bin ich schon hier? Ein Fremder, den man noch nicht einmal nach seinem Ticket für diese Welt gefragt hat….
Es roch gerade nach Gras. ES ROCH HIER GERADE NACH GRAS. Aber als ich vorhin wirklich hinter dem Busch pissen wollte, stand da schon wer und hinter dem wiederum ein anderer mit seiner Handylampe.
Ich dachte unwillkürlich: Die sind Freunde. Und: Das ist Freundschaft, der leuchtet seinem Kumpel, damit der sich nicht auf seine Schuhe pisst.
Doch weit gefehlt.
Der Typ leuchtete meinen Vorpinkler nur an um dem klar zu machen: Hintern Busch zu pinkeln ist hier nicht gewünscht. Wir haben Klos!
Aber er tut es höflich. Fast fröhlich.
Wenigstens das: Eine fröhliche Höflichkeit. Das hab ich bei Klofrauen und Männern schon anders erlebt. Das könnte eines der bislang unbesungenen Unterschiede zwischen Mittel- und Armeschweineklasse sein: Verbote nicht ruppig herüberzubringen, sondern in selbstgewiss höflicher Fröhlichkeit.
Es gibt hier Menschen, die ich ernst nehme. Aber die verteidigten gerade Ronja von Rönne. Verdammt die Zwänge des Literaturlebens. Man streitet dann eben auf höherem sprachlichen Niveau über Menschen und Texte, die es (noch) nicht verdient hätten.
Die Wiese hinter der DLL -Villa ist gestreut von liegen gelassenen Plastikbechern. Auf dem Weg zur Bar – der im Haus – stolpere ich über eine leere Flasche.
Die Wiese hinter der Villa ist immer noch ganz ordentlich gefüllt. Zwei Frauen in geblümten Blusen kreuzen mich und stehen dann auch vor der Bar. Bionade, denke ich und sehe dann das Schild dort hinterm Tisch mit Plastiktuch, der als Bar dient: “Wahrsagen/gegen Spende”.
Immerhin, denk ich, dem Unvorhergesehenen wird Raum bereitet.
Zwei Bier und drei Gespräche später dann mein Abgang. Unentschieden, unverholfen, vielleicht sogar unentschlossen.
An der Bushaltestelle einige Kids, die über Freunde reden.
Ein Typ in schwarz, mit Basecap verkehrt herum, der ständig die Wahlwiederholung seines Smartphones drückt, während er im (beinah) Stechschritt an der Haltestelle vorbeistürmt. Der Spruch, mit dem der Provider ihm mitteilt: “Kein Anschluss unter dieser Nummer!” ist noch durch die Stille zu hören, während er bereits fast die Strasse überquert hat.
Und zwar: zielstrebig.*
* Der Text wurde während des Sommerfestes 2017 im Deutschen Literaturinstitut Leipzig, bei Facebook veröffentlicht, als Versuch: Literatur live zu verfassen und über Social Media erlebbar zu machen.