Boot Hill – Hügel der Stiefel

Caroline Ryan war im Frühjahr nach Hope gekommen. Ich erinnere mich noch an den Tag, als sie aus der Postkutsche stieg.

Sie war eine mittelgroße Frau mit dunklen Augen und langem lockigen Haar. Ich war neidisch auf ihr Kleid gewesen. Es war grün und nach der neuesten Mode in San Francisco geschneidert.

Miss Ryan hatte Mayers Eisenwaren- und Futtermittelhandlung gekauft, nachdem der alte Carl Mayer beschlossen hatte, dass er seine letzten Jahre in Reno bei seiner Tochter verbringen wollte.

Anfang Oktober des folgenden Jahres erschoss sie Benjamin Coleridge. Er war eines Nachts betrunken in ihr Haus eingedrungen, und sie behauptete später, dass er sie zu vergewaltigen versuchte, aber sich davonmachte, nachdem er sah, dass sie ihn mit ihrem Colt in der Hand auf der Treppe erwartete.

Am nächsten Morgen ging sie zu Sheriff Nichols, und der versprach, ein Wort mit Benjamin zu reden. Caroline Ryan war offen zu Sheriff Nichols: Betrat Ben noch einmal nach Einbruch der Dunkelheit ihr Haus, so fing er sich eine Kugel ein.

Benjamin hatte darüber gelacht und später damit angegeben, dass er diesem verdammten Ryan-Huhn schon noch Benehmen beibringen würde.

Zwei Nächte später versuchte er erneut sein Glück. Und endete, wie Miss Ryan angekündigt hatte, mit einem Loch in der Stirn auf ihrem Küchenboden.

Mein Vater ist Richter Bellman. Ich bin achtzehn Jahre alt und lebe in seinem Haus. Keine zwanzig Minuten, nachdem man Miss Ryan ins Gefängnis gebracht hatte, stand das Urteil bereits fest.

Ich weiß das so genau, weil der Richter, gleich nachdem er mit Sheriff Nichols gesprochen hatte, mit mir zusammen zu Joe Klein, dem Tischler, ging und ihn aufforderte, den Galgen beim Gericht zu überholen.

»Mach es ordentlich, Joe. Falls du Holz und Nägel brauchst, sag nur, dass sie es der Stadt in Rechnung stellen sollen.«

Klein setzte seinen Hut wieder auf, nickte und spuckte in den Staub. »Ich fang gleich nach Sonnenaufgang damit an.«

Mein Vater schüttelte den Kopf und wies zum Gerichtsgebäude. »Heute noch, Joe. Der Herr wird es dir schon nachsehen, wenn du am heiligen Sonntag arbeitest. Ist ein gottgefälliges Werk, das du verrichtest.«

Der Richter nickte Klein zu und ich deutete einen Knicks an, dann nahm Vater meinen Arm und führte mich, wie jeden Sonntag, die staubige Straße entlang nach Hause.

»Du wirst heute Nacht im Gefängnis schlafen müssen. Ich kann Nichols nicht allein mit ihr dort lassen. Ich schicke nachher gleich Sam mit genug Holz für den Ofen rüber. Es wird eine kalte Nacht. Der Himmel ist klar.«

»Ja, Richter«, sagte ich und hielt meinen Blick auf die Spitzen meiner guten Stiefel gerichtet, die ich in der Kirche trug und die so gar nicht zu meinem einfachen schwarzen Kleid mit der weißen Schürze passen wollten. An Stiefeln und Hauben hatte ich mehr in meinem Schrank, als man es von der Tochter eines einfachen Provinzrichters erwarten sollte.

Ich glaubte, in weiter Ferne das Pfeifen der Eisenbahn zu hören, von der man hier nicht viel gehalten hatte, als die Ingenieure kamen, um zu erkunden ob die Stadt ein Anschlussgleis wert sei. »Wir bleiben lieber unter uns«, hatten die Ratsherren bestimmt. Und so würde es bleiben, heute, morgen und immerdar. Es gab die Welt, und es gab diese Stadt. Und diese Stadt hatte schon immer mehr davon gehalten, die Welt die Welt sein zu lassen, aber diese Stadt diese Stadt.

Wir gingen schweigend bis zur Haustür, dann legte mein Vater mir die Hand unters Kinn und zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. »Und dass du nicht etwa auf den Gedanken kommst, ein Wort mit ihr zu sprechen. Sie ist eine unanständige Frau. Ich will nicht, dass sie dir irgendwelche ungehörigen Ideen in den Kopf setzt, hörst du?«

»Ja, Vater«, flüsterte ich.

II.

Mir war nicht erlaubt, an der Verhandlung teilzunehmen.

»Das ist nichts für Mädchen wie dich. Dazu ist das eine viel zu ernste Angelegenheit.«

Obwohl ich letzte Nacht kaum ein paar Stunden geschlafen hatte, saß ich den ganzen Vormittag am Fenster und wartete darauf, dass er vom Gericht zurückkehrte.

Als er seinen Hut an den Ständer hängte und in die Küche trat, wo wie immer sein frisch gebrühter Kaffee auf ihn wartete, sagte er nichts, sondern faltete die Hände zum Gebet und forderte mich mit einem strengen Blick auf, es ihm gleichzutun. Nachdem er sein Gebet gesprochen hatte, löffelte er Zucker in den Kaffee. »Du gehst anschließend in ihr Haus und bringst ihr neue Kleider.«

Ich nickte.

»Es müssen anständige Kleider sein, Tochter. Danach schläfst du besser ein paar Stunden. Du hast eine lange Nacht vor dir.«

Ich stand auf und knickste vor ihm. Er nickte mir zu und trank seinen Kaffee.

Als ich aus Miss Ryans Haus zurückkehrte, saß er in seinem Stuhl auf der Veranda und hielt die Bibel aufgeschlagen im Schoß. Er glaubte an die Weisheit darin, und war überzeugt, dass sie ihm Trost schenkte. Es fiel mir nicht schwer, mir auszumalen, was er da nachgelesen hatte: Hesekiel, 23, 45: Darum werden gerechte Männer sie richten nach dem Recht, das für Ehebrecherinnen und für Mörderinnen gilt; denn sie sind Mörderinnen und Ehebrecherinnen und ihre Hände sind voll Blut.

Er sah auf, als ich mit dem in Papier eingeschlagenem Kleid zur Tür trat. »Geh nur nach oben, Tochter. Ich werde mir nachher selbst etwas zu essen machen. Ich wecke dich, wenn es an der Zeit ist.«

Ich knickste. »Ja, Vater.«

Ich ging hinein und ließ ihn allein dort in der warmen Sonne sitzen. In meinem Zimmer legte ich das Päckchen auf meinem Toilettentischchen ab, öffnete die Schürze, breitete sie sorgfältig über die Stuhllehne und legte mich aufs Bett. Ich bezweifelte, dass ich wirklich Schlaf finden würde.

Vier Stunden lang sah ich zu, wie die hellen Lichtflecken von einer Seite der Zimmerdecke zur anderen wanderten. Als sie beim Fenster angekommen waren, stand ich auf und zog eine neue helle Schürze aus dem Schrank, die ich über das schwarze Kleid streifte und zuband.

Nachdem ich das Päckchen für Miss Caroline Ryan ergriffen hatte, war ich bereit für eine weitere Nacht im Dienst von Anstand und Moral.

Der Richter war in seinem Arbeitszimmer. Er hatte die Tür einen Spalt offen gelassen, wohl um sicherzugehen, dass er mich die Treppe herabkommen hören würde.

»Sheriff Nichols lässt etwas zu essen vom Hotel herüberschicken, bevor er nach Hause geht.«

Es kam nicht infrage, dass ich auch nur einen Kanten Brot aus seiner Speisekammer mit zum Gefängnis nahm, solange er mein Abendessen und Caroline Ryans Henkersmahlzeit auf Rechnung der Stadt vom Hotel beziehen konnte.

»Ist recht, Vater. Auf Wiedersehen«, sagte ich und knickste genau so, wie er es gerne sah.

»Auf Nichols Schreibtisch liegt eine Heilige Schrift. Du kannst ihr daraus vorlesen, wenn sie danach verlangt.

»Das werde ich.«

»Geh jetzt.«

»Auf Wiedersehen, Vater.«

»Auf Wiedersehen, Tochter.«

Ich setzte meine Haube auf, band sie unter dem Kinn zu, ging die paar Schritte bis zur Tür und öffnete sie leise. Bis ich die Tür wieder hinter mir schloss, spürte ich seine Blicke in meinem Nacken.

Die frische klare Abendluft tat mir gut. Ich hob das Gesicht gen Himmel und blinzelte ein paar Mal in die sinkende Sonne.

Der Weg von unserem Haus bis zu Nichols Büro, in dem das Gefängnis untergebracht war, kam mir länger vor als gewöhnlich. Ich sah Joe Klein, der mit seiner Werkzeugkiste zum Saloon ging, eine Farmersfrau scheuchte ihre beiden Sprösslinge über die Straße zu ihrem Wagen, auf dem ein Schwarzer mit einem zerbeultem Hut auf sie wartete.

In Nichols Büro roch es nach schwerem schwarzem Tabak.

»Miss Bellman.« Nichols erhob sich von seinem Stuhl und griff nach den Schlüsseln für die Tür zu den vier Zellen hinter seinem Büro. »Ihr seid früher dran, als ich erwartet hatte.« Er wies auf das Päckchen unter meinem Arm.

»Bluse und Rock. Der Richter fand es angemessen.«

Nichols zuckte die Achseln. »Ein umsichtiger Mann, Euer Vater.«

Gewiss.

Ich nickte und sah zu Boden, wie er es erwartete. Wie sie alle es hier erwarteten.

Nichols war sichtlich froh über mein Erscheinen, gab das ihm doch die Gelegenheit, sich für einen Schwatz in den Saloon zu verdrücken, bevor er am Hotel vorbeiging, um mir dort den Korb mit Miss Ryans Abendessen zu holen.

Zurückgekehrt würde er ihn dann auf dem Schreibtisch abstellen, mir gut gelaunt eine angenehme Nacht wünschen, die Fensterläden schließen und zuletzt von draußen drei Mal den Schlüssel im Schloss umdrehen.

III.

Ich mochte weder das rechte Geschlecht noch das passende Alter haben, um an der Verhandlung teilnehmen zu dürfen, doch um Miss Ryan hängen zu sehen, war ich in den Augen meines Vaters weder zu jung noch vom falschen Geschlecht. Im Gegenteil, behauptete er doch, das stärke mein Sinn für Anstand und Moral.

»Ist Zeit, was?«

Neben der Zellentür stand der Stuhl, auf dem ich die vergangene Nacht verbracht hatte. Ich erhob mich und sah zu, wie Nichols Caroline Ryans Zelle aufschloss. Er öffnete die Tür, ich betrat Miss Ryans Zelle, bedankte mich artig bei ihm und sah zu, wie er die Zelle wieder verschloss.

»Ihr wisst ja, Miss Bellman. Ruft einfach, wenn Ihr fertig seid.«

Ich bereitete Caroline vor. Ich half ihr, sich umzuziehen und anschließend ihr Haar hochzubinden. Nachdem ich Nichols gerufen hatte, blieb ich mit ihm noch solange in der Zelle, bis er Miss Ryan wieder Fesseln angelegt hatte.

Auch das wurde von mir erwartet – Nichols war Junggeselle, und dass er bei einer solchen Verrichtung allein mit der Gefangenen in der Zelle geblieben wäre, hätte man hier in der Stadt als nicht statthaft angesehen.

Es stand nur zu hoffen, dass der Richter meine Wahl für Miss Ryans Kleider begrüßte. Ein einfacher Rock, lang und schwarz, ein Mieder und eine blütenweiße gestärkte Bluse, die ich auf der Kommode neben ihrem Bett gefunden hatte.

Miss Ryan setzte sich auf ihre Pritsche.

Nichols wartete, bis ich aus der Zelle trat und meinen Platz auf dem Stuhl wieder eingenommen hatte, dann verschloss er sie wieder.

Der Tag versprach so warm und sonnig zu werden, wie es für Anfang Oktober in dieser Gegend der Welt nur möglich war.

IV.

Ich führte Miss Ryan am Arm aus dem Gefängnis die Straße hinab zum Galgen. Neben mir ging der Mayor und neben ihm Richter Bellman und vor uns Sheriff Nichols, der sich einen schwarze Frack übergezogen hatte, der ihm eine seltsam steife Haltung vermittelte.

Die Leute, die vorm Galgen warteten, waren angemessen still. Und wäre da nicht der Strick mit der Schlinge unter dem Galgenbaum gewesen, hätte man meinen können, der Pastor mit seinem Hut und der Bibel hätte an diesem schönen Morgen beschlossen, den Gottesdienst unter freiem Himmel zu feiern.

Ich blieb auch dann noch bei Miss Ryan, als sie zwischen Nichols und dem Richter die zehn Stufen zur Schlinge hinaufstieg.

Ich blickte all die Zeit züchtig zu Boden und änderte auch jetzt nichts daran. So sah ich nicht viel außer Miss Caroline Ryans schwarzem Rocksaum und wie sie ihre Füße auf die Stufen setzte und dann auch die drei Schritte zur Falltür hintrat.

Hinter dem Galgen stand der schwarze Wagen von Smyth Bestattungshaus. Später würde Smyth über Miss Ryan sagen, dass sie eine schöne Leiche war und vor allem ja bereits passend angezogen für den Sarg. Smyth gab sich stets Mühe, irgendetwas Gutes über die Toten zu sagen. Jedenfalls solange die keine Schwarzen oder Chinesen waren.

Der Pastor hielt den Hut in der Hand, als Miss Ryan den Galgen betrat. Er nickte ihr zu und setzte den Hut wieder auf, sobald sie die Falltür erreicht hatte.

Nichols sah den Richter an. Der Richter sah Nichols an, woraufhin Nichols Miss Ryan vorsichtig die Schlinge über den Kopf streifte und sie unsicher festzog.

Derweil reichte mir der Richter einen breiten Ledergürtel. Er erwartete, dass ich ihn kurz über den Knien um Miss Ryans Beine schlingen würde. Dies einem der Männer zu überlassen, wäre nicht angebracht gewesen. Erst recht unstatthaft wäre es, sollte Carolines Rock etwa auffliegen, während sie in die Schlinge stürzte und so den Blick auf ihre bestiefelten Beine freigeben.

Ich tat, was von mir erwartet wurde. Und mied dabei Miss Ryans Blick. Sie bebte und zitterte. Ich hatte Mühe, den Gürtel um ihre Knie zu schlingen. Wer hätte es ihr verdenken sollen? Ich zog den Gürtel straff und führte ihn durch die Schnalle, genau so, wie man es mir zuvor geraten hatte.

Caroline Ryan verzichtete auf irgendwelche letzten Worte. Ich konnte den Schrecken in ihren Augen sehen und wie sie sich auf die Lippen biss, in dem Moment, als ich von ihr weg trat und jeder ahnte, dass es Zeit für sie war.

Die Leute vorm Galgen hielten den Atem an.

Ich nickte den Männern auf dem Schafott höflich zu, machte einen leichten Knicks und stieg die zehn Stufen hinunter, während der Pastor hinter mir mit leiser Stimme ein Gebet sprach.

Wie zuvor hielt ich auch jetzt meine Blicke gesenkt und konzentrierte mich darauf, meinen Füßen zu befehlen, auf den Stufen vorsichtig einen Schritt vor den anderen zu setzen.

Am Fuße der Galgenstufen angekommen, spürte ich, dass es jetzt so weit war.

Eine atemlose Spannung ging von all den versammelten Menschen aus, die sich einzig durch den Knall der Falltür lösen konnte.

Ich hätte mich jetzt, einmal am Fuße des Galgens angelangt, in die erste Reihe der Zuschauer einordnen und wie alle anderen zum Galgen, zu Richter, Sheriff, Pastor und der armen Miss Ryan hinaufsehen können.

Doch ich tat es nicht.

Daher sah ich nicht, wie Miss Ryan vielleicht ein letztes Mal zum Himmel aufblickte oder den Kopf ein wenig hin und her drehte, wie man es wohl tat, wenn man sich an einem zu engen Blusenkragen störte.

Ich sah auch nicht, wie der Sheriff die Falltür auslöste und Miss Ryan in die Schlinge stürzte, sie dann vielleicht verzweifelt die gefesselten Hände zu Fäusten ballte oder ihren Mund zu einem stummen Schrei öffnete.

Was ich aber stattdessen sah, waren all die Gesichter der guten Männer, Frauen und Kinder von Hope. Jener Stadt, die sich selbst genug war. Und was ich dazu hörte, waren der trockne Knall der Falltür und die dumpfen »Ahs!« und »Ohs!« der Zuschauer und das Knarren des Seils, in dem Miss Ryan sich zu Tode strampelte, während rundum Applaus aufbrandete.

Was ich sah und hörte, war mir genug.

Alle würden wochenlang von nichts anderem reden als diesem frischen klaren Morgen, an dem Miss Caroline Ryan bekommen hatte, was sie verdiente.

Ich hingegen würde stumm bleiben. Alle anderen mochten eine Hinrichtung gesehen haben. Ich aber hatte einen Blick in die Hölle geworfen. Und die Hölle gab kein gutes Gesprächsthema ab. Jedenfalls nicht hier in Hope und nicht außerhalb der vier weißen Bretterwände der Kirche.

An jenem Morgen sah ich mich erst wieder zum Galgen um, als der Richter mir missbilligend seine schwere Hand auf die Schultern legte und mich dazu zwang, ihm für eine Sekunde in die Augen zu blicken.

»Komm, Tochter«, sagte der Richter und nahm meinen Arm, um mich nach Hause zu führen.

Im Haus kam es mir kälter vor. Ich hatte das Gefühl, die Welt um mich herum hätte an Tiefe, Glanz und Farben verloren. Sogar die Sonne schien sich damit abgefunden zu haben, nur noch als ihre eigene Kopie vom Himmel zu scheinen.

An diesem Abend ließ der Richter die Tür zu seinem Zimmer einen Spalt offen stehen.

Ich tat, was von mir erwartet wurde: Ich zog das blaue Kleid an und legte ganz leicht den teuren Lippenstift auf, den der Richter mir aus Reno hatte schicken lassen, bevor ich in die neuen Stiefel schlüpfte, die er mir aus Frisco mitgebracht hatte.

V.

Einige Wochen darauf standen wir nach dem Sonntagsgottesdienst beisammen. Wir, das waren die Mädchen aus den Familien der besseren Gesellschaft von Hope. Sonntag für Sonntag hielten wir nach dem Gottesdienst unseren kleinen Schwatz.

Die Leute, die unserem Grüppchen ab und an einen Blick zuwarfen, glaubten, wir sprächen über die Predigt oder die Sonntagsschule, in der jede von uns abwechselnd unterrichtete. Und genau das taten wir gewöhnlich auch.

Wir, die Mädchen der besseren Gesellschaft von Hope. Wir, jene sechs Mädchen in züchtig langen Röcken und unschuldig hellen Hauben. Wir, jene sechs Mädchen aus Hope, die wir seit unserem zwölften oder dreizehnten Jahr Sonntag für Sonntag in den Zimmern unserer Väter klaglos taten, was von uns erwartet wurde.

Doch an diesem Sonntag steckte ich nach unserem Schwatz jeder meiner Freundinnen heimlich ein Papiertütchen zu. Es enthielt ihren Anteil jenes hellen Pulvers aus dem Fläschchen, das ich zusammen mit Miss Ryans Kleidern aus ihrem Haus mitgebracht hatte. Es war sorgsam verstöpselt gewesen, und ich fand es an einem ungewöhnlichen Ort, nämlich zwischen Miss Caroline Ryans Unterwäsche in ihrem Schrank. Auf dem kleinen Papierschnipsel, der darauf klebte, hatte irgendwer einen Totenkopf und zwei gekreuzte Knochen gekritzelt.

Auch an diesem Sonntag würden wir Mädchen aus Hope klaglos tun, was von uns erwartet wurde.

Doch es würde das letzte Mal sein.

Und selbst falls man dann die richtigen Schlüsse zu ziehen begann, würde man einen neuen Richter brauchen, einen neuen Pastor, einen neuen Bürgermeister, Bestatter, Lehrer und Apotheker, um an uns Mädchen der besseren Gesellschaft von Hope dieselbe Art von Gerechtigkeit zu üben, wie man sie der armen Miss Ryan angetan hatte.

Ich blickte zum Friedhof hinüber, den alle hier nur Boot Hill – Hügel der Stiefel – nannten. Ohne es wirklich sehen zu können, spürte ich doch, dass nach und nach auch alle anderen Mädchen der besseren Gesellschaft von Hope lange, nachdenkliche Blicke auf das staubige Gräberfeld warfen…

David Gray, 2011