Die bleichen Blumen des Bösen

1. Die Morgensonne, fand der Teniente, wirkte wie der Irrtum eines verrückten Regisseurs – völlig fehl am Platz. Genau jetzt und hier hätte sie nicht so optimistisch aus dem Himmel herunter strahlen dürfen. Ihr Optimismus widersprach wozu der Teniente so früh am Morgen nach einer langen Nacht im Verhörraum des Zentralgefängnisses hierher gekommen war. Er war hier um die Frau zu töten, die er die ganze vergangene Nacht hindurch verhört hatte. Sie war eine Krankenschwester von Beruf und wusste, was ihr bevorstand. Das wusste sie schon, seit sie gestern Nachmittag festgenommen, dann verprügelt und anschließend in eine Zelle gesperrt worden war. Dass sie es wusste, machte dem Teniente seine Aufgabe nicht leichter.

Im Gegenteil.

Die Ergebenheit, mit der sie jeder seiner Anweisungen folgte, erschien ihm furchtbar. Ein Affront gegen alles, woran er glaubte und worauf er hoffte. Er fand ihre Ergebenheit sei zutiefst würdelos. Man sollte doch erwarten dürfen, dass ein Mensch sich zur Wehr setzte, sobald ihm klar wurde, dass er zur Schlachtbank geführt wurde, oder nicht?

Der Teniente ging zwei Schritte hinter der Frau, den von Bulldozern festgefahrenen Pfad, über die größte Müllkippe der Stadt herab. Es fiel ihm schwer sich dabei ihrem Tempo anzupassen. Ihre Arme waren auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt, weswegen sie hin und wieder stolperte und zu fallen drohte. Die Frau war nicht sehr groß und sie trug flache Segeltuchturnschuhe mit einer dünnen Gummisohle, die vielleicht geeignet waren sich in klimatisierten Hospitälern und Villen zu bewegen, aber nicht dazu gedacht den löchrigen, von allerlei Glasscherben und scharfen Metallresten übersäten Pfad einer Müllkippe herab zu gehen. Kein Wunder, dass sie kaum vorankamen, dachte er.

Kein Mensch war so früh am Morgen, so weit oben auf dem Müllberg, der von der Ferne wie ein Felsmassiv wirkte, das grimmig über die Stadt wachte.

Egal.

Der Teniente entdeckte eine alte fleckige Matratze, die der Gier des kleinen Heers von Müllsammlern entgangen war, die den Müllberg gewöhnlich bevölkerten und aus dem, was andere weggeworfen hatten, ein karges Leben fristeten.

Das, dachte er, war ein passender Ort um zu tun, was er zu tun hatte. Er legte der Frau die Hand auf die Schulter, dirigierte sie dann mit einer knappen Geste zu der Matratze.

Hier also.

Er fragte sich, weshalb sie nicht zu beten begonnen hatte. Alle anderen hatten schließlich auch zu beten begonnen, sobald ihnen klar geworden war, was ihnen bevorstand. Wenigstens beten konnte sie ja wohl, wenn sie sich von ihm schon wie ein folgsames Schaf zu dem Ort treiben ließ, an dem er sie erschießen würde. War das zu viel verlangt? Dieses kleine Zeichen von Angst um und der Mühe für das Leben?

Der Teniente tat, was er hier heute morgen tat, zwar längst nicht zum ersten Mal. Aber zum ersten Mal fühlte er sich leise unsicher dabei. Vielleicht einfach nur deswegen, weil diese Frau nicht so reagierte wie er es erwartet hätte.

Er sah über die riesige Müllkippe hinweg. Ein heißer Windstoß wirbelte Staub und Fetzen von Zeitungspapier auf.

Mit Zeitungen, dachte der Teniente, fing immer alles an. Die Zeitungen lebten von Worten. Und Worte waren gefährlich. Schon immer. Es gab zu viele Zeitungen im Land. Immer noch.

Hin und wieder tagträumte er davon, doch Lehrer geworden zu sein, wie sein Vater und dessen Vater es gewesen waren, nachdem die Familie vor sechzig Jahren aus dem winzigen Dorf am Hang der Anden in die Hauptstadt gezogen war um dort ihr Glück zu finden. Der Teniente schämte sich dabei jedoch nicht seiner Uniform oder gar der Dinge, die er in dem Verhörraum tat. Dort war er ganz Offizier und er folgte buchstabengetreu den Regeln, die ihm in seinem „Handbuch für Ermittlungen und Verhöre“ vorgegeben waren. Was ihn beschämte waren kleine, beinah unwichtige Dinge. War zum Beispiel ein Schmutzfleck an seiner Uniform oder seine Vorgesetzten. Denn vor allem die Älteren unter ihnen erinnerten ihn in ihrer aufgesetzten Steifheit und ihrer Angewohnheit, zu oft über den Durst zu trinken und sich dabei gehen zu lassen, an die Campesinos und Indios, von denen sie alle im Lande letztlich abstammten, auch wenn die Indios selbst nichts darin zählten. Die alte Garde der Offiziere bildeten eine Gefahr für das Ansehen der Armee im Land, davon war der Teniente heimlich überzeugt. Doch, so viel musste er ihnen immerhin auch zugestehen – sie waren rücksichtsloser und geradliniger im Umgang mit den Feinden der Republik als ihre jüngeren Kameraden aus der zweiten Generation von Offizieren, zu der er selbst zählte.

Der Teniente glaubte, dass die Frau in ihrem hellblauen Kleid ganz ansehnlich gewesen sein musste, bevor sie verhaftet und verprügelt worden war. Sie war Mitte dreißig, eher klein, aber stramm, brünett und eher weiß als braun, was darauf hindeutete, dass nur noch wenig Indioblut in ihren Adern floss. Sie stammte aus der Hauptstadt und lebte allein.

Vergewaltigt hatte man die Frau nicht. Das hatte der Teniente gestern verhindert. So etwas wäre ihm gegen die Ehre gegangen. In diesem Punkt war er eigen. Mancher seiner Vorgesetzten sahen ihn wegen dieser Marotte schief an und seine Untergebenen witzelten hin und wieder darüber, dass ihr Teniente keine Cojones hätte. Sein Coronel nahm ihn sogar einmal bei einer Feier beiseite um ihm anzudeuten, dass auch Männer, die Männer liebten, in der Armee ihr Auskommen hätten, solange sie wüssten, was sich gehörte und ihre Perversionen keinesfalls in der Öffentlichkeit auslebten.

Der Teniente hatte das damals als absurd von sich gewiesen. Aber er war bis heute nicht sicher, ob der Coronel ihm damals wirklich geglaubt hatte.

Trotzdem war er ein Mann wie alle anderen auch und fand Gefallen an Frauen. Er war nur eben so erzogen worden, Vergewaltigung für ein Übel zu halten, mehr noch – eine Todsünde. Und zwar selbst dann, wenn sie paradoxerweise eigentlich einer guten und gerechten Sache diente, wie der Coronel es ihm damals am Rande der Feier einzureden versucht hatte. „Sehen Sie, junger Freund, wir können Indios, Guerillas und Anarchisten verurteilen, erschlagen, erschießen oder aus Hubschraubern über dem Meer abwerfen lassen. Das alles hält sie in Schach und jagt ihnen Furcht ein. Aber es führt auch dazu, dass sie nur noch enger zusammenrücken und gegen uns konspirieren. Doch ihre Frauen, Töchter und Schwestern von einer Horde verschwitzter Rekruten durchficken zu lassen, das, mein Lieber, trifft sie persönlich. Das vergrößert ihren Hass. Männer, die hassen, machen Fehler. Genau das ist es, was wir brauchen: Feinde, die Fehler begehen. Die aus Wut und Zorn Schulbusse in die Luft jagen oder Polizeistationen überfallen und auf öffentlichen Plätzen Bombenanschläge verüben. Das rechtfertigt vor der Bevölkerung die harte Linie, die wir gegen die Feinde der Republik fahren müssen. Eines Tages werden Sie das schon noch begreifen.“

Der Teniente fand dennoch, dass jede Sache, der es dienen sollte eine Frau zu vergewaltigen, schon allein dadurch bewies, dass sie eben keine gar so gute Sache sein konnte. Laut auszusprechen hätte er das jedoch niemals gewagt. Das wäre schlecht für seine Karriere gewesen und er hatte eine Menge Gründe, seine Karriere nicht zu gefährden.

Die Sonne brannte mit jeder Minute heißer auf die Müllkippe herab. Der Teniente fühlte Schweißperlen in den Kragen seiner Uniform rinnen. Es wurde höchste Zeit, dass er das hier hinter sich brachte.

Er griff nach dem Arm der Frau. Stoppte sie vor der Matratze, die früher mal blau und weiß gestreift gewesen sein musste. Jetzt war nur noch an ihren Rändern etwas davon zu erahnen. Aus zwei tiefen Rissen quoll Rosshaar aus der Matratze.

Er befahl der Frau sich auf die Matratze zu knien und lud seine Pistole durch.

Wenigstens jetzt – im allerletzten Augenblick vor dem Schuss, der sie tötete, müsste sie doch verdammt noch mal endlich zu beten beginnen? Oder wenigstens um ihr bisschen Leben bitten, irgendwelche letzten Worte stammeln? Doch nichts dergleichen. Die Frau im hellblauen Kleid sank stumm auf die Knie, senkte den Kopf ein wenig und schloss ihre Augen dabei.

Bevor er den Finger um den Abzug krümmte dachte er darüber nach wie sie beide hierher gekommen waren und – weshalb.

Vielleicht tat er es um das, wozu er hierherkam, vor sich selbst zu rechtfertigen. Aber das wäre dann ein unbewusster Vorgang gewesen. Eigentlich war jene wenige Sekunden dauernde Kontemplation vor seinem Schuss eine Gewohnheit, die er angenommen hatte, seit er vor drei oder vier Jahren zum ersten Mal einen Gefangen hierher gebracht und hingerichtet hatte.

Während er auf den Nacken der Frau starrte, die noch im Zentralgefängnis ihre Haare aufgesteckt hatte, kamen die Bilder und Gedanken, legten sich übereinander, sortierten sich, zeigten den Weg, der sie beide hierher auf diese Müllkippe und zu jener ausgebleichten, aufgerissenen, stinkenden Matratze gebracht hatte.

„Heilige Mutter Maria, die du gebenedeit bist unter den Frauen …“, begann die Frau jetzt doch zu beten.

2. Der Teniente kannte zufällig das Haus des ehemaligen Obersten, den die Frau getötet hatte. Es lag in einer breiten Straße voller anderer langweiliger, großer Häuser mit Gärten und einer gepflasterten Auffahrt, die unter einen Vorbau führte, der sich bis fast zur zweiten Etage hinauf erstreckte.

In solchen Häusern war es auch im Hochsommer stets kühl und schattig, weil die Mauern dick waren, die Kronen der Gartenbäume breit und schattig über den Mauern lagen und keiner dort – weder Personal noch Herrschaft – im Haus die Fensterläden je weiter als nur einen Spalt öffneten.

Die Frau war eine Krankenschwester. Die Firma, für die sie arbeitete, zählte zu den exklusivsten des Landes. Ihre Angestellten, das Management und die Besitzer waren mehrfach vom Geheimdienst überprüft und für „sauber und unbedenklich“ erklärt worden, was bedeutete, dass man ihnen gestattete ihre Dienste den höheren Armeeangehörigen, Politikern und einem Kreis ganz bestimmter Unternehmer anzubieten.

Die Frau war also von ihren Arbeitgebern zu dem alten Obersten geschickt worden. Er lag da bereits im Sterben. Seine Familie machte sich keinerlei Illusionen darüber, dass es nur noch eine Frage weniger Wochen, vielleicht sogar nur von Tagen sei, bis der Alte für immer die Augen schloss. Alles, was sie von der Schwester, die sie engagiert hatten, erwarteten war die letzten Tages des alten Mannes so angenehm wie möglich zu gestalten.

Deswegen war es dem Teniente auch so unbegreiflich gewesen, dass die Frau den Alten umgebracht haben sollte. Er war nie wichtig gewesen. Nur einer von vielen, die damals den Putsch im Land geplant und durchgeführt hatten. Ein Mann nicht einmal aus der zweiten oder dritten, sondern höchstens der vierten Reihe der Putschisten. Es hatte doch so viele andere gegeben, vor deren Taten im Namen des Vaterlands selbst ihm, dem Offizier, zuweilen graute. Männer in Uniform hatten in den Monaten nach dem Putsch der Luftwaffe befohlen, ganze Dörfer mit einem Flächenbombardement zu belegen oder Dutzende Campesinos – Männer und Frauen – in drei Reihen hintereinander an eine Kirchenwand gestellt und dann mit einem schweren Maschinengewehr niedermähen lassen, so dass die Rekruten, denen man danach befahl die Leichen zu verbrennen, berichteten, dass nicht einer der Toten dabei noch vollständig gewesen sei – was sie zu sortieren hatten war ein einziger blutiger Fetzenhaufen aus Armen, Beinen, Händen Köpfen, Brüsten, Füßen, Haaren und zerschossener Kleidung gewesen.

Das war, was der Teniente ein Massaker genannt hätte. Das war, was selbst ihm den Angstschweiß auf die Stirn trieb, wenn gegen Morgen hin und wieder die Alpträume kamen und ihn die Angst vor der eigenen und der Zukunft der Nation kalt an Herz und Seele packte.

Doch dieser alte Oberst? Der war ein Schreibtischhengst gewesen, verantwortlich für die Verhandlungen mit den Lieferanten von Uniformen, von Stiefeln, Mützen, Jacken, Hosen, Koppeln. Was sollte die Frau so sehr aufgebracht haben, dass sie es dem Greis nicht gönnen durfte, friedlich in seinem Bett zu sterben? Zumal es während der Ermittlungen, die der Teniente in dem Fall durchführte, auch klar geworden war, dass die Frau keinen persönlichen Groll gegen den Oberst gehegt haben konnte. Denn ihrer beider Wege hatten sich nie zuvor gekreuzt.

Nachdem seine Familie feststellte, dass der Alte tot war, ließ dessen Tochter nach einem Arzt rufen, dem – eher zufällig – auffiel, dass er seltsam aus dem halboffenen Mund roch. Der Arzt war jung und unerfahren, was erklärte, dass er, anstatt einfach nur den Tod des Alten zu registrieren, wie man das von ihm erwartete, darauf bestand dass man den Greis obduzierte. Die Familie war verständlicherweise entsetzt gewesen darüber. Zumal dies bedeutete, dass sich alle weiteren Prozedere, die auf den Tod eines Bürgers in einem zivilisierten bürokratisch regierten Land so zu folgen pflegten, auf unbestimmte Zeit verzögerten. Vor allem die Eröffnung seines Testaments.

Die Obduktion wurde in aller Eile und unter strengen Sicherheitsvorkehrungen durchgeführt, während man die Familie und sämtliches Hauspersonal des Obersten unter Arrest stellte.

Sowie das Ergebnis der Obduktion feststand, fiel der Verdacht auf die Schwester, die in ihrem Zimmer unterm Dach des Hauses eingeschlossen worden war und da in einem Buch, wahrscheinlich einer Bibel, gelesen hatte, bis man sie festnahm und ins Hauptquartier brachte, wo sie nach ihrer Einlieferung von zwei Polizisten und einer der Wärterinnen verprügelt wurde, wie das üblich war bei allen Neuzugängen im politischen Trakt, in das der Coronel sie hatte einsortiert sehen wollen, da ihm von Beginn an ein Verdacht gekommen war, dass es sich dabei um keinen gewöhnlichen Mord aus Gier, Eifersucht oder Zorn hatte handeln können.

Der Teniente bekam den Fall gegen Mittag von dem Coronel zugewiesen, der ihm, wie er verkündete, damit angeblich einen Gefallen erweisen wollte, da diese Affäre wie ein Fall wirkte, der trotz der möglicherweise politischen Motive einfach und schnell zu lösen sei, aber sich trotzdem ganz ordentlich in der Personalakte des Teniente ausmachte, solange er ihn rasch und gründlich bearbeitete.

Der Teniente stimmte seinem Vorgesetzten darin zunächst auch zu. Alles, was man brauchte, war ein Geständnis der Schwester und ein Protokoll über dieses Geständnis. Sollte sie den alten Obersten aus persönlichen Gründen getötet haben, würde man sie vielleicht einem Gericht überstellen. Sollte sie jedoch aus irgendwelchen politischen Motiven gehandelt haben, dann standen ihr, sobald sie gestanden und ein Protokoll unterzeichnet hatte, eine Fahrt zur Müllkippe und eine Kugel in den Hinterkopf bevor.

Der Teniente wusste nicht, wie viele inzwischen bereits zwischen dem Müll geendet hatten und er bezweifelte, dass je irgendwer Buch darüber geführt hatte.

Manchmal tauchten die Leichen auf wundersame Weise bei dem Zaun am Rande des Müllberges auf. Sie waren dann entweder eingefallen und ausgedörrt wie Mumien oder – vor allem im Winter, der in der Hauptstadt kühl und feucht war – grotesk aufgeblasen von den Verwesungsgasen in ihrem Gedärm. Angehörige von Desaparecidos strichen oft wochenlang um die Zäune herum, in der Hoffnung die Leichen ihrer plötzlich verschwundenen Verwandten, Freunde oder Partner zu finden.

Armee und Geheimpolizei ließen das zu, da man in den höheren Rängen der Meinung war, dass dies der Abschreckung der Bevölkerung diente, die in diesem Land traditionell als ganz besonders rebellisch galt.

Das Zentralgefängnis, in dem der Teniente seinen Dienst versah, war vor dem Putsch einmal eine Kadettenanstalt gewesen. Inzwischen hatte man den alten weitläufigen Kasten um zwei Flügel erweitert. Fast viertausend Gefangene hielt man hier, da war alles dabei, was, wie der Coronel es ausgedrückt hätte „Gottes Zoo an Ungeziefer“ nur hergab. Das fing bei kleinen Berufskriminellen an, reichte über in Ungnade gefalle Drogenbosse, bis hin zu den politischen Gefangenen. Von denen es allerdings jetzt, fast zwanzig Jahre nach dem Putsch, nicht mehr allzu viele gab. Etwa ein Drittel der Zellen im Trakt der politischen Gefangenen stand daher leer.

Zwei der Sergeanten, die dem Teniente dienten, hatten die Frau in den kahlen Raum gebracht. Dessen Wände und Boden bestanden aus rauem Beton bestanden. Exakt in Bodenmitte war ein kleiner Gully eingelassen und an der linken Wand ein Anschluss für einen kräftigen schwarzen Wasserschlauch. An Einrichtung befanden sich darin weiter nichts als ein Tisch und vier Stühle. Der Tisch und zwei der Stühle waren am Betonboden fest gebolzt. Der Tisch verfügte über eine Stahlöse, in die einer der Sergeanten die Handschellenkette der Frau einhakte und sicherte.

Sie hatte sich müde in dem Raum umgesehen, dabei kurz mit ihren Blicken den Teniente gestreift, aber kein Wort gesagt.

Der Sergeant schaute angewidert auf sie herab und meldete, dem Teniente dass die Gefangene „wie befohlen unberührt“ sei.

Der Teniente schaute die Frau an und erkundigte sich, ob die Meldung des Sergeanten der Wahrheit entsprach. Sie erwiderte zwar nicht seinen Blick, aber nickte einige Male. Die beiden Sergeanten verließen den Raum.

Der Teniente wartete bis er hörte, dass von draußen der Riegel vorgeschoben wurde, setzte sich der Frau gegenüber an den Tisch und machte eine ziemliche Show daraus die Papiere auf dem Klemmbrett zu ordnen, das er mitgebracht hatte.

Der Teniente erklärte der Frau, weswegen sie hier war und was er von ihr erwartete. Er sah sie an dabei und war sicher, dass sie verstand, was er sagte. Dann zog er seine Poketausgabe des „Handbuch für Ermittlungen und Verhöre“ aus der Uniformjacke, legte es neben sein Klemmbrett und erklärte, dass alles, was er jetzt tat um sie zur, wie er es nannte „Kooperation“ zu bewegen, von den Vorschriften in dem Handbuch gedeckt sei.

Die Frau schien ihn auch diesmal wieder gehört und verstanden zu haben, sagte aber trotzdem kein Wort. Dass sie hier den Vorschriften zufolge verhört werden würde schien sie weder aufzuregen noch beruhigen zu können. Angesichts des Gestanks nach altem Schweiß, Urin und trocknem Blut, der in dem Raum herrschte, hätte sie sich allerdings besser aufregen sollen, fand der Teniente.

Er fragte, ob sie zugäbe den Oberst vergiftet zu haben, und zwar, wie die Obduktion es ergab, mit einem ziemlich seltenen afrikanischem Pflanzengift, gewonnen aus Blüte und Blättern eines Strauchs namens – da musste der Teniente in seinen Papieren auf dem Klemmbrett nachsehen – Buschmanns Schöngift.

Die Frau sah jetzt endlich den Teniente an. Ihr linkes Auge war blutunterlaufen und angeschwollen. Da würde sich demnächst ein veritables Veilchen entwickeln. Außerdem waren ihre Lippen aufgeplatzt und begann eine Platzwunde am Haaransatz ihrer Stirn gerade eben zu verschorfen.

Die Frau betrachtete das Klemmbrett, dann das Handbuch und hob zuletzt den Blick um auch den Teniente anzuschauen.

„Ich habe den Oberst vergiftet. Das Gift habe ich auf dem Indiomarkt von einem Schwarzen gekauft, der sonst Apotheker mit Pflanzenextrakten beliefert. Er hat mich über die Wirkungsweise des Gifts informiert und mich davor gewarnt. Ihm ist also nichts vorzuwerfen. Er hat sich korrekt verhalten. Ich bin bereit meine Strafe zu verbüßen. Ich bin auch bereit ein Geständnis zu unterzeichnen“, sagte die Frau. Es klang aufgesetzt, als hätte sie jedes ihrer Worte aus einem vorgefertigten Text abgelesen oder sich ihre Ansage wieder und wieder im Kopf vorformuliert bis sie sicher war, dass jedes Wort da saß wo es sollte.

Der Teniente fand, dass nichts davon einen Sinn ergab. Ein Schwarzer Pflanzengifthändler auf dem Indiomarkt? Davon hätte er hören müssen. Der Indiomarkt wurde streng vom Geheimdienst überwacht, weil er als Treffpunkt aufmüpfiger Campesinos galt. Und Ausländer, die mit Giften handelten, wären ganz sicher im Informantennetz des Dienstes hängengeblieben.

Weder ihr Geständnis noch die Ruhe, mit der sie es abgab, ergaben irgendeinen Sinn für den Teniente. Das Einzige dabei, was durchaus Sinn machte, war der Punkt, dass die Frau den Oberst tatsächlich umgebracht haben musste.

Der Teniente wischte sich Stirn, Lippen und Nacken mit einem großen weißen Taschentuch ab. Es war zu heiß hier drin. Der Betonanbau lud sich noch schneller mit Hitze auf als der Ziegelbau der ehemaligen Kadettenanstalt.

Die Frau schlug ihre Augen nieder und legte ihre Hände neben der Öse auf dem Tisch übereinander.

Der Teniente steckte das Taschentuch weg, schlug sein Handbuch auf und las aus den Verhörvorschriften vor. Die waren bewusst eindeutig gehalten um jedem, der sie las oder hörte, deutlich vor Augen zu führen, dass jedes Verhör, das jenen Vorschriften entsprechend durchgeführt wurde, ungefähr so gesund und erquicklich war, wie der beherzte Biss in den fauligen Kopf eines schleimig verwesenden Fisches.

Im Zeitalter der Heiligen Inquisition nannte man das, was der Teniente gerade tat, „Vorführen der Instrumente“. Damals brachte man Beschuldigte in die Folterkammern und ließ dort den Henker demonstrieren, wozu all jene grotesken Instrumente fähig waren. Und auch der Teniente hatte die Erfahrung gemacht dass es eine effektive Methode war, um Gefangene einzuschüchtern und zum reden zu bringen. Wem würde angesichts einer Vorschrift, die es gestattete den Kopf eines Gefangenen in einen wassergefüllten Eimer zu tauchen, nicht anders, zumal in der Vorschrift auf den Zentimeter genau die Füllhöhe des Eimers, dessen Fassungsvermögen und sogar das bevorzugte Material, aus dem er gefertigt zu sein hatte, angegeben worden war.

Und tatsächlich wanderten die Blicke der Frau unwillkürlich zu dem Schlauch und dem Wasserhahn an der Wand, während der Teniente die Vorschrift verlas. Dass dort bei dem Schlauchanschluss kein Eimer zu sehen war, konnte die Frau nicht wirklich beruhigen, denn die Tauchmethode wurde der Vorschrift zufolge erst nach einem zwölfstündigen Zellenaufenthalt bei konstanter Neonbeleuchtung und ununterbrochener Beschallung mit patriotischer Marschmusik empfohlen.

Schließlich schlug der Teniente das Handbuch zu, blickte die Frau an und sagte: „Eigentlich kann ich hier mit Dir machen, was ich will, einschließlich Dir den Kopf abzureißen und anschließend in Deinen Hals zu pissen, solange ich mir davon irgendeinen Fortschritt in meiner Befragung verspreche.“

Dieser Spruch, vorgebracht gleich nach dem auf die Dauer doch etwas ermüdenden Verlesen der Vorschrift, bildete einen solchen Kontrast in Tonfall und Formulierung zur Amtssprache der Vorschriften, dass er noch jeden störrischen Gefangenen dazu gebracht hatte dem Teniente seine volle Aufmerksamkeit zu schenken.

„Es braucht sehr viel Kraft um einem Menschen den Kopf abzureißen, Teniente“, kommentierte die Frau leise.

Der Teniente nickte und deutete so etwas wie ein Lächeln an. „Ich könnte mir auch vorstellen, dass es eine verfluchte Sauerei wäre. Die ich mir besser ersparen würde. Ebenso wie alles andere, was ich Dir gerade vorgelesen habe. Alles, was ich hören will, ist ein Motiv für den Mord an dem Oberst. Er war 82 Jahre alt und der Arzt, der ihn obduziert hat, ist sicher, dass er es keine zwei Wochen länger gemacht hätte. Weshalb also ihn vergiften, wenn er doch sowieso fast schon tot war?“

Die Frau schaute ihn immer noch an, was den Teniente für einen Moment verunsicherte. „Wissen Sie, dieses Gift, das ich dem Oberst verabreichte, hat einen Namen, dort wo es herkommt. Oder vielleicht waren es auch irgendein Dichter, der die Blüten, aus denen es gewonnen wird, mal so genannt hat. Es sind jedenfalls weiße Blüten, ganz viele weiße Blüten, die an einem niedrigen Busch blühen, aus denen man das Gift extrahiert. Sie sollen sehr schön sein, zart und so weiß. Deswegen, und weil sie so giftig sind, nennt man sie auch die bleichen Blumen des Bösen. Das hat mir gefallen – die bleichen Blüten des Bösen. Finden Sie nicht auch, dass es ein passender Name ist für die Quelle eines Giftes, von dem nur ein paar Milligramm genügten, um einen alten Mann zuerst dazu zu bringen sich in Schüttelkrämpfen zu winden, die gleich darauf von Erbrechen abgelöst wurden und zuletzt zu einem furchtbar heftigem Herzinfarkt führten? Es war interessant das mit anzusehen. Man glaubt eine Krankenschwester stünde mit dem Tod auf Du und Du und hätte ihn schon so oft kommen und gehen sehen, dass ihr nichts mehr an ihm fremd sein könnte. Aber das ist nicht wahr. Wir sehen den Tod meistens in Hospitälern, zwischen Maschinen, Bildschirmen und Schläuchen in einer unmenschlich weißen und sauberen Umgebung. Nur wenige von uns begegnen ihm je dort, wo er wirklich zu hause ist, da, wo er den größten Teil seiner Ernte einbringt: auf den Schlachtfeldern, den Straßen, in den Favelas und den Dörfern im Dschungel. Dort ist nichts rein und unmenschlich, da ist der Tod so schmutzig und natürlich, so wild und gewaltig wie die Erdbeben, Überschwemmungen und Wolkenbrüche in der Regenzeit. Dort ist, wo er sich wirklich zu hause fühlt. Aber als ich dem Oberst dabei zusah, wie er in seinem schönen sauberen Bett in seinem schönen kühlen Schlafzimmer krepierte, sich wand, erbrach, einpisste, dann blau anlief, sich zuletzt aufbäumte, keuchte, krächzte, stöhnte und halb aus dem Bett rutschte vor Schmerz und Furcht, da spürte ich, dass der Tod in der Villa zumindest zu Gast war. Dass er bei mir stand – ganz wortwörtlich neben mir stand, Teniente! – und mit mir zusammen zusah, wie der Oberst sich wand wie ein Wurm. Ich empfand eine unglaubliche Erleichterung dabei. Kennen Sie das? Diese Erleichterung, die einen überkommt, sobald man den Tod neben sich spürt, aber dabei sicher weiß, dass er gekommen ist um einen anderen zu holen? Sie sollten das kennen, Teniente. Sie sind Soldat. Jeder Soldat sollte dieses Gefühl kennen. Sonst ist die Uniform, die er trägt, nicht besser als ein Karnevalskostüm.“

Wovon sprach sie da, fragte sich der Teniente erstaunt. Uniformen als Faschingskostüme? Der Tod, der angeblich leibhaftig zu ihr getreten war? Was war das für ein verdammter Unsinn?!

Er stand auf, betrachtete die Frau, wusste nicht recht ob er sie schlagen, auslachen oder ernst nehmen sollte. Vielleicht, meinte er, ja auch all das zugleich.

Die Frau straffte sich unter seinem erstaunten Blick, leckte sich dann über ihre geplatzte Lippe und lächelte ihn an. Mein Gott, dachte er, sie lächelte!

„Sie begreifen es nicht, oder Teniente? Ihr alle hier in eurer Festung habt euch in Paranoia eingehüllt wie in einem warmen Mantel an einem kalten Tag. Es war nie wichtig für mich, wer der Oberst war. Was für mich zählt ist der Tod. Dieser eine unvergleichliche Augenblick, sobald er neben mich tritt in einer dieser Villen, in die man doch sogar einen wie Sie nur hereinlässt um ihn wie einen besseren Dienstboten zu behandeln. Glauben Sie etwa der alte Oberst sei mein erster gewesen? Ich habe zwölf von ihnen auf dem Gewissen. Zwölf. Und keiner von euch hat je Verdacht geschöpft. Noch ein Jahr und ich hätte den halben Generalstab umbringen können. All die Tattergreise mit ihren Stöcken und Korsetts unter den Uniformjacken – ich hätte sie einen nach dem anderen töten können. Weil ihr blind seid. Ihr fürchtet euch so sehr vor Terrorristen und Guerillas, dass ihr gewöhnliche Mörder überseht. Begreifen Sie es doch, Teniente, nichts könnte mir gleicher sein als Politik! Ich bin die Braut des Todes und ich trage die bleichen Blumen des Bösen dorthin, wo es mir gefällt.“

Der Teniente zweifelte ein letztes Mal an seinem eigenen Verstand, bevor er begann an dem der Frau zu zweifeln, die ihm nach ihren völlig absurden Worten nur umso selbstsicherer zulächelte. Sowie dem Teniente dämmerte, dass sie tatsächlich wahnsinnig sein musste, ahnte er, dass er da ein echtes Monster vor sich hatte. Da war jener Landarzt in Großbritannien, dem man vorgeworfen hatte acht seiner Patienten getötet zu haben und die OP-Schwester in Deutschland, die angeblich sogar 15 ihrer Schützlinge ermordete.

Hatte die Frau eben wirklich behauptet, dass es zwölf gewesen seien, die sie umgebracht hatte, fragte er sich. Zwölf? Oh Gott, dachte der Teniente, und versenkte für einige Sekunden seinen Blick in die kalten klaren Augen der Frau. Was er da sah jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein. Da war keine Spur von Angst, Scham oder gar Reue zu entdecken, sondern höchstens ein unbändiger Stolz, so pervers und falsch, dass er ihm wie der pure Irrsinn erschien. Doch wirklich bis ins Mark erschütterte ihn der Gedanke, dass es nichts – absolut nichts gab – was er der Frau antun konnte, das ihren innersten Kern auch nur anzukratzen vermochte. Und er erkannte: Nicht er, sie war es, die hier sämtliche Fäden in der Hand hielt.

Noch jeder, den er hierher gebracht und einem Verhör unterzog, hatte sich vor Schmerzen und dem Tod gefürchtet. Doch dieses Ungeheuer schien beides mit weit offenen Armen geradezu willkommen heißen zu wollen.

Der Busen der Frau hob sich um eine Winzigkeit rascher jetzt, das war alles, was er an Aufregung an ihr ausmachen konnte. Und es schien immer noch nicht einmal leise Angst zu sein, die den Atem der Frau etwas schneller gehen ließ, sondern beinah so etwas wie eine sexuelle Erregung.

Bei allen Heiligen im Himmel und Dämonen in der Hölle, das war unmenschlich, dachte der Teniente.

Die Frau schaute zu dem Klemmbrett auf dem Tisch. Weit außerhalb der Reichweite ihrer Hände. „Wollen Sie die Namen, Teniente? Ich verrate sie Ihnen gern…“

Letztlich, dachte er erschüttert, war es nur folgerichtig, dass sie plötzlich die Anweisungen gab.

So nahm er wortlos wieder Platz, zog einen Stift aus seiner Uniform und schrieb jeden der zwölf Namen nieder, den die Frau ihm so geschäftsmäßig kühl wie eine Spesenabrechnung diktierte.

„Es waren 51 Privatpatienten, um die ich mich in den letzten beiden Jahren zu kümmern hatte. Obwohl ich sie gern alle getötet hätte, wäre das zu riskant gewesen. Daher habe ich es nur mit jedem vierten getan. Ich war verantwortlich für Patienten, die sowieso im Endstadium waren, dass jeder vierte von ihnen etwas früher starb, als erwartet, entsprach nur der statistischen Wahrscheinlichkeit. Allerdings sollte man wohl meinen Vater ebenfalls zu meinen Opfern zählen. Er war der erste überhaupt. Ich war siebzehn als ich ihn mit einer Überdosis Lidocain tötete, die ich aus dem Schwesternheim gestohlen hatte.“

3. Der Teniente spürte neuen Schweiß seinen Nacken herab rinnen. Die Sonne brannte inzwischen so furchtbar heiß vom Himmel herab. Er richtete den Lauf der Waffe auf den Nacken der Frau. Das war der Moment, er hatte es doch schon so oft getan. Wie oft eigentlich? Ein Dutzend Mal? Nein, dachte er, öfter, als nur ein Dutzend mal. Eher schon so zwanzig, zweiundzwanzig Mal.

Was hinderte ihn denn daran seinen Zeigefinger zu krümmen?

Er legte den Lauf der Waffe an den Nacken der Frau, presste ihn gegen ihre helle, zarte Haut.

Sie hatte wohl immer noch ihre Augen geschlossen. Und sie betete weiter. Betete sie wirklich zur Heiligen Mutter Gottes? Oder hörte er sie da eben den Namen von Santa Muerte flüstern, jener Heiligen der Diebe, Huren, Dealer und Mörder, verfemt bei den Priestern und verschmäht vom Generalstab, aber verehrt von den einfachen Soldaten?

Der Teniente schwitze. Er atmete einige Mal rasch nacheinander tief durch.

Die Frau vor ihm schwankte beinah unmerklich hin und her. Es musste daran liegen, dass sie sterben wollte, dachte er. Sie war über Leben, Erwartung, Hoffnung, Angst und all das, längst hinaus. Das musste sie schon immer gewesen sein. Sie war sich selbst einfach gleich. Sie hatte ihnen allen bewiesen, was für Schwachköpfe sie waren. Darin lag ihr Triumph. Sie würde mit dem Wissen sterben, dass sie sie besiegt hatte.

Der Teniente blinzelte. Dann schloss er erneut die Augen. Er sah den Coronel vor sich, so wie er gestern in seinem Büro gesessen hatte…

4. Der Coronel glaubte ihm nicht, als er ihm Bericht erstatte, dabei erwähnte, dass er die Namen, die die Frau ihm diktierte, bereits hatte überprüfen lassen und sich dabei ihre Aussage bestätigt hatte. Die Frau hatte ein Dutzend Greise auf dem Gewissen, acht davon waren Offiziere gewesen und am Putsch vor Zwanzig Jahren beteiligt. Bei den übrigen vier handelte es sich um einen Unternehmer und drei zivilen Staatsbeamten.

Der Teniente hatte den Vorgesetzten der Frau und die Besitzerin der Firma, bei der sie angestellt war, bereits von einer Abordnung Soldaten aufsammeln und zum Zentralgefängnis bringen lassen, sie warteten in einer der Gemeinschaftszellen. Die Frage war, wie man jetzt weiter zu verfahren hätte.

Der Teniente sah zu wie sein Vorgesetzter allmählich die Tragweite des Falles der Frau begriff. Die unerhörte Blamage, die darin lag. Man hatte in den Jahren nach dem Putsch im Lande den effektivsten und umfangreichsten Geheimdienst ganz Lateinamerikas aufgebaut, dessen Netz an Agenten, Informanten und unwissentliche Zuträger sich buchstäblich bis in jeden Winkel der Nation erstreckte. Doch keiner in Armee und Geheimdienst hatte offenbar Verdacht geschöpft als eine einfache Krankenschwester ihren wahnsinnigen Trieben folgend ein Dutzend Vertreter der Elite des Landes umbrachte? Die Guerillaführer, Anarchisten, Terroristen und aufmüpfigen Studenten würden sich ja vor Lachen die Bäuche halten, sollte je etwas über den Fall publik werden. Und das Ausland erst!

Nichts davon durfte je bekannt werden. Da waren sie sich rasch einig geworden.

Der Teniente hatte bereits zwei seiner Sergeanten zum Haus der Frau gesandt, wo sie – gerade bevor er das Büro des Coronel betrat – einen Strauch jener so giftigen Pflanze fanden, den die Frau offenbar eifrig gepflegt hatte, denn bei dem Strauch, der in einem großen Tonfass auf dem winzigen Balkon gedieh, standen teurer Guanodünger und war eine ausgeklügelte Bewässerungsanlage installiert. Er war die einzige Pflanze überhaupt, die sich in der Wohnung der Frau fand.

Sie riefen im Vorzimmer des Coronel an, während der Teniente darauf wartete empfangen zu werden. Die Frau log also als sie von dem Schwarzen auf dem Indiomarkt sprach, der ihr die giftigen Blüten, Blätter und Rinde des Strauchs angeblich verkauft hätte.

Der Coronel nahm diese Meldung immerhin mit Erleichterung auf, als der Teniente ihm davon berichtete. Die Lösung, die der Coronel seinem Untergebenem präsentierte entsprach seinem Charakter: „Sie lassen jeden Fetzen Papier und jegliche Akte, der über diese Frau existieren, einsammeln, zum Staatsgeheimnis erklären und anschließend vernichten. Mit ihrem Vorgesetzten und der Besitzerin der Firma rede ich selbst. Die werden sich vor Angst in die Höschen machen, sobald ich mit ihnen fertig bin. Was Sie mit der Frau anzustellen haben, muss ich Ihnen ja nicht näher erläutern, oder Teniente?“

Das wäre tatsächlich überflüssig gewesen.

„Sie haben Ihre Befehle, Teniente. Führen Sie sie aus!“

Und das tat der Teniente. Er sorgte dafür dass tatsächlich jedes Stück Akte, jegliches Formular von der Geburtsurkunde bis zum Antrag auf einen Telefonanschluss und die Bewertungen ihrer Grund- und Fachschullehrer herausgesucht, gesammelt und vernichtet wurde. Dazu brachte er eine ganze Hundertschaft von Soldaten unter seinen Befehl, um diesen Mammutakt der Bürokratie innerhalb von weniger als acht Stunden erledigen zu können. Die Soldaten, Sergeanten und Leutnants dieser Hundertschaft klingelten dazu dreiundsechzig Menschen aus ihren Betten, nahmen 48 von ihnen vorübergehend fest und erschossen einen davon, der das Unglück hatte ein Drogenhändler zu sein, dessen Name und Geburtsdatum zufällig mit dem eines der Lehrer der Frau identisch waren.

Als dem Teniente gegen 5 Uhr morgens gemeldet wurde, dass man seine Befehle ausgeführt habe, schenkte er sich einen starken heißen Kaffee in seinen Becher mit dem Siegel der Armee und atmete einige Male erleichtert tief durch.

Seine Erleichterung kam jedoch zu früh. Eine Konsequenz jener „Aktion Papier“ wie sie der Teniente genannt hatte, entging seiner Aufmerksamkeit. Sie entging auch der Aufmerksamkeit des sonst so allmächtigen Geheimdienstes.

Einer der Rekruten, die an der Aktion teilnahmen, weckte dafür nämlich auch eine ziemlich farblose etwa 40jährige Angestellte im Registrarbüro der Hauptstadt, verantwortlich für die Vergabe von städtischem Wohnraum. Obwohl sie widerspruchslos den Befehlen des Rekruten folgte und ihm sämtliche infrage kommenden Dokumente zur Vernichtung übergab, die sie finden konnte, wählte sie doch, erst einmal zu Hause zurück, die Nummer eines Chirurgieprofessors an der Universitätsklinik, den sie von den seltsamen Vorgängen in jener Nacht in Kenntnis setzte. Sie war zwar nicht die einzige, die den Professor in jener Nacht informierte, doch sie war eine der ersten und sie war diejenige, deren Anruf den Professor davon überzeugte, dass er den Vorgängen seine Aufmerksamkeit widmen sollte. So informierte der Professor einen Pizzabäcker, dessen Geschäft gegenüber seiner Klinik lag, der wiederum eine seiner Brieftauben mit einer Nachricht bestückte und zum Haus eines bekannten Rechtsanwalts in einem der Villenviertel los sandte. Dieser Anwalt war Führer einer geheimen Widerstandsgruppe, die sich während der letzten Monate mühevoll mit sämtlichen weiteren Oppositionsgruppen im Land über eine Zusammenarbeit verständigt hatte. Dass er über den eher altmodischen Weg einer Brieftaube informiert wurde, war einer der Gründe dafür, dass weder innerhalb der Armee noch des Geheimdienstes bisher etwas über die Vereinbarung der Oppositionellengruppen noch über deren Verbindungen zu der Verwaltungsangestellten und jenem Chirurgieprofessor und dem Pizzabäcker durchgesickert war. Armee und Geheimdienst überwachten Telefone, Radios, Funkfrequenzen, Zeitungen, die Medien und das Internet, jedenfalls soweit es überhaupt funktionierte in dem doch sehr rückständigen Land. Aber Brieftauben? Die waren ein so altmodisches System der Nachrichtenübermittlung, dass bisher keiner in den Amtsstuben darauf verfallen war Brieftauben als Kommunikationsmittel überhaupt in Erwägung zu ziehen.

So wurden in jener Nacht noch viele weitere Brieftauben in allen Teilen des Landes unbehelligt auf die Reise geschickt. Gegen Morgen, etwa drei Stunden bevor der Teniente in seinem Büro erleichtert in seinen dampfenden Kaffee blies, hatten sich die Oppositionsgruppen im Lande darüber geeinigt, dass jener Frau, deren Name, Adresse und Geschichte – ja deren gesamte Existenz – man mithilfe der „Aktion Papier“ auszulöschen versuchte, sehr rasch, sehr viel mehr an Aufmerksamkeit des Widerstands zuzuwenden sei. Von da ab ging alles sehr schnell. Der Widerstand aktivierte sämtliche seiner Informanten in Armee und Geheimdienst um sich ein klareres Bild über jene Frau und deren Taten zu verschaffen. Nachdem das vollbracht worden war, trafen die Oppositionsführer eine weitreichende Entscheidung.

Von all dem ahnte der Teniente jedoch nichts als er an dem Morgen im Büro seinen Kaffee austrank, dann zum Spiegel über dem Waschbecken trat und kritisch den Sitz seiner Uniform musterte. Er polierte einige der Knöpfe an Kragen und Schulterklappen mit einem weichen Baumwolltuch. Dann zog er seine Dienstwaffe aus dem auf Hochglanz gewienerten Holster und überprüfte sie. Die Waffe war in einem hervorragenden Zustand und würde daher zuverlässig ihren Dienst verrichten.

Diese Frau, die immer noch angekettet im Verhörraum auf ihn wartete, war eine Abnormität, die es einfach aus der Welt zu tilgen galt. Nichts, was er oder irgendein anderer diesem Ungeheuer antun könnten, würde etwas an den finsteren Trieben, die in ihr herrschten, zu ändern vermögen. Nie zuvor war der Teniente so sehr von der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit überzeugt gewesen, einen Gefangen zur Kuppe der Müllkippe zu fahren und dort hinzurichten.

5. Und jetzt, eine Dreiviertelstunde darauf, war der Teniente hier auf der Müllkippe, schwitzte und presste den Lauf seiner Waffe gegen den Nacken der Frau, von der er jetzt sicher war, dass sie tatsächlich nicht zur Heiligen Mutter Maria betete, sondern Santa Muerte, die finstere Heilige der Gauner und Killer um Gnade und Schutz anflehte.

Diese Hitze machte ihn ganz wahnsinnig, dachte er. Wie konnte es so früh am morgen bereits so furchtbar heiß sein? Wieder spürte er Schweiß in seinen Kragen rinnen. Wie er das verabscheute. Die feuchten dunklen Flecken, die der Schweiß auf seiner Uniform hinterließ. Dabei war er doch vorhin im Büro noch so absolut sicher gewesen, dass dies der beste Weg für alle sei. Letztlich sogar für dieses weibliche Monster, das hier vor ihm kniete und zum zweiten Mal ihr Gebet begonnen hatte, weil er immer noch unfähig gewesen war seinen Finger zu krümmen.

Dann, fast unbewusst, löste sich doch ein Schuss aus der Waffe des Teniente. Die Frau wankte und fiel vornüber. Ein heftiges Zittern durchfuhr ihren Leib, ihre Finger verkrampften sich zu Fäusten, ihre Füße trommelten einige Augenblicke gegen die ausgebleichte und aufgerissene Matratze.

Blut lief aus ihrem Hals und tropfte aus ihrem Nacken.

Der Teniente spürte jenes Kribbeln, das dem plötzlichen Ausstoß von Adrenalin folgte. Doch, anders als sonst in solchen Momenten, stach da nicht ein letzter Rest Scham vor dem, was er getan hatte, in ihm. Stattdessen überkam ihn eine unerhörte Erleichterung, die allmählich Befriedigung, Zufriedenheit und einer wachsenden Müdigkeit Platz machte. Es war eine angenehme Müdigkeit, die Müdigkeit eines Mannes, der wusste, dass er das richtige getan hatte und sich nach einer anstrengenden Nacht einige Stunden tiefen Schlafes redlich verdient hatte.

Der Teniente bemerkte, dass seine schwarzen Schnürstiefel ein Netz von winzigen Blutspritzern überzog. Entstanden als die Kugel in den Nacken der Frau eindrang.

Er würde die Stiefel putzen lassen müssen, dachte er. Da – etwa einen Meter neben der regungslos blutenden Leiche der Frau lag die ausgeworfene Hülse. Der Teniente bückte sich danach, steckte sie in seine Uniformjacke, sicherte seine Waffe, schob sie ins Holster zurück, wandte sich ab und ging rasch auf seinen unauffälligen zivilen Kombi zu.

Er bemerkte ein Surren weit über ihm in der Luft und legte erstaunt den Kopf in den Nacken um danach zu schauen.

Die Verwaltung der Müllkippe nutzte Drohnen um illegale Müllsammler aufzuspüren, die sich auf der Kippe herumtrieben, aber dafür keine Lizenzgebühren an die Müllverwaltung entrichteten, wie ihre offiziell geduldeten Kollegen. Doch heute sollten die Drohnen eigentlich nicht im Einsatz sein, der Teniente hatte sich vor seiner Abfahrt extra danach erkundigt. Er legte, gegen die Sonne, die Hand flach gegen die Stirn und blinzelte in den blauen Himmel hinein.

Da war jedoch nichts zu sehen.

Er musste sich geirrt haben, dachte er und setzte seinen Weg zum Wagen fort.

6. Nur irrte der Teniente sich nicht. Was er da gehört hatte war tatsächlich eine Drohne gewesen. Doch sie gehörte zur neuesten Generation der Geräte und wurde nicht von einem Angestellten der Müllverwaltung bedient, sondern einem Taxifahrer, der sie etwa fünf Kilometer entfernt hinter dem Zaun, der die Müllkippe abgrenzte, von seinem Handy aus bediente.

Die Drohne trug eine Kamera mit einem Hochleistungszoom. Was es ermöglichte selbst aus großen Entfernung die Hinrichtung, die der Teniente gerade vollzogen hatte, so deutlich aufzuzeichnen, dass genau zu erkennen war, dass dort ein Uniformierter eine vor ihm kniende Frau erschoss.

Der Taxifahrer gehörte zum Widerstand und würde den Film, den die Kamera aufgenommen hatte, noch an diesem Morgen an einen Kurier übergeben, der ihn nach Chile schmuggelte und dort einer Gruppe Exilanten übergab, die den Widerstand im Lande koordinierte.

Gegen Abend erschienen dann die ersten Meldungen über die Hinrichtung im Ausland. Und noch vor Mitternacht sprühten vermummte Studenten den Namen und das Gesicht der Frau an die Mauern der Hauptstadt, ihr Kopf versehen mit einem Heiligenschein.

Diese Graffiti verbreiteten sich von da an unaufhaltsam übers ganze Land und wurden zum Symbol eines Aufruhrs, der bald darauf in eine offene Rebellion überging, die das Regime der Offiziere in weniger als vier Wochen aus dem Präsidentenpalast, den Kasernen und der Geheimdienstzentrale fegte.

Die Frau im blauen Kleid wurde nach der Rebellion als Heldin der Nation gefeiert, die in einem einsamen Akt der tatkräftigen moralischen Entrüstung die Elite der Juntaoffiziere ausdünnte, als sie zwölf dieser Unmenschen tötete. Man schrieb patriotische Gedichte über sie und verwendete ihre Geschichte als einsame Rächerin der Unterdrückten in zahllosen sentimentalen Liedern, Büchern und Aufsätzen.

Dem Teniente gelang es zwar nach der Rebellion das Land zu verlassen und in Argentinien unterzutauchen, wo er bald eine florierende Autovermietung betrieb.

Doch jedes Mal, wenn er hörte, dass man in seiner alten Heimat einen Park, eine Schule oder eine Straße nach jener einsamen Heldin und Heiligen der Rebellion benannt hatte, pflegte er kopfschüttelnd in ein hartes Lachen auszubrechen.

David Gray, 2016